U2 - „eXPERIENCE + iNNOCENCE"-Tour - Lanxess Arena, Köln - 04.09.2018
Veranstaltungsort:
Stadt: Köln, Deutschland
Location: Lanxess Arena
Kapazität: ca. 20.000
Stehplätze: Ja
Sitzplätze: Ja
Homepage: http://www.lanxess-arena.de/startseite.html
Einleitung:
Es ist der 04.09.2018, ein junger Dienstag Nachmittag und zudem ein ganz besonderer Tag, auf den meine heutige Begleitung und ich uns schon sehr lange gefreut haben, seitdem wir vor einigen Monaten unsere Tickets im Vorverkauf erstanden. Leider nicht ganz ohne Ärgernis, denn fernab des fast schon unrealistisch hohen Preises von zweihundertdreißig Euro pro Karte in der ersten Sitzplatzkategorie, ereignete sich nur wenige Wochen vor der Veranstaltung plötzliche eine so unübliche, wie unvorhersehbare Senkung um rund die Hälfte des ursprünglichen Angebots. All jene, die also möglichst früh gebucht hatten, schauten nun grundlos benachteiligt in die Röhre. Auf die Nachfrage beim Anbieter „Eventim“ erfolgte die Weiterleitung zum namhaften Veranstalter „Live Nation“, der auf mehrmalige Nachfrage lediglich angab, dass solche kurzfristigen Entscheidungen, ähnlich der Reservierung bei Flügen, ganz in ihrem Ermessen lägen und vorkommen könnten. Ein abgefragtes Upgrade in die ursprünglich erworbene und (zu viel) bezahlte Kategorie oder die Erstattung der Differenz erfolgte nicht. Ein vollkommen indiskutabler Service, von dem wir uns die Vorfreude dennoch nicht nehmen ließen. Da das Konzert unter der Woche liegt und die Anreise nach Köln erfahrungsgemäß immer etwas länger dauern kann, haben wir uns heute etwas eher von der Arbeit verabschiedet und zudem den Mittwoch frei genommen. So stehen wir mit unseren Koffern nun am Hauptbahnhof Bochum und warten auf den ICE in Richtung Domstadt, welcher sodann auch schon bald überraschend pünktlich am Gleis einfährt. Die rund einstündige Fahrt verläuft ohne nennenswerte Probleme, nur kurz vor dem Düsseldorfer Flughafen befinden sich laut Durchsage wieder einmal Personen auf der Strecke. Aber auch dieses Problem wird nach einer guten Viertelstunde endlich aufgelöst und nachdem wir ab Leverkusen einen kurzen Regenschauer an uns haben vorbeiziehen sehen, sind wir schließlich in Deutz angekommen. Zwar haben sich die grauen Wolken noch immer nicht gänzlich verzogen, dafür bleibt es aber wenigstens trocken. Unser Gepäck im Schlepptau, geht es vorbei am Messegelände zu unserem Hotel, wo wir schon bald einchecken und unsere Zimmer beziehen können. Allzu viel Zeit bleibt jedoch nicht mehr, denn der Einlass steht bevor. Kurzerhand umgezogen, machen wir uns wieder auf den Weg zur nahegelegenen Lanxess Arena, in der heute das erste der beiden angesetzten Konzerte von „U2“ stattfindet. Ein von vielen Fans mit Zittern und Spannung gleichermaßen erwarteter Tag, musste Sänger Bono doch aufgrund gesundheitlicher Probleme die zweite Show in Berlin bereits nach dem fünften Song abbrechen. Ob heute alles gut geht? Bevor diese Frage später am Abend jedoch beantwortet werden soll, stellen wir uns erst einmal an einem der zahlreichen Ausschänke an und genehmigen uns ein kühles Kölsch mit Blick auf das rege Treiben, ehe wir uns schließlich vor dem Eingang einreihen. Einen kurzen Body-Check und eine routinierte Taschenkontrolle später, haben wir es auch schon geschafft und stehen im Foyer. Wie nun mal so üblich, geht es als erstes zum nächstbesten Merchandising-Stand, den wir finden können. Gut so, immerhin hat sich bereits eine große Menschentraube vor diesem zusammengefunden und frönt fleißig ihren Einkäufen. Neben einem klassischen T-Shirt mit den hinten aufgedruckten Tourdaten, gibt es unter anderem auch noch eines zum neuen Song „Love Is Bigger Than Anything In It‘s Way“, mit einem Live-Foto oder gar der gesamten Band darauf. Alles zum gehobenen Standardpreis größerer Acts von genau fünfunddreißig Euro. Wir entscheiden uns für das exklusive Event-Shirt zum Köln Gig, auf dem sowohl die Termine der beiden Konzerte als auch ein Megafon abgebildet sind. Weiterhin kommen noch ein überteuerter Schlüsselanhänger und das hochwertige Programmheft dazu. Noch ist bis zum Beginn etwa eine ganze Stunde Zeit und so sehen wir uns entspannt in der weitläufigen Arena um, umrunden den kompletten Unterrang, um die verschiedenen Perspektiven der 360°-Bühne auf uns wirken zu lassen und essen einen überraschend guten Burger vom lokalen Caterer, ehe wir später unsere Plätze aufsuchen. Es kann beginnen...
U2:
Bereits gegen 19.40 Uhr hat sich ein Großteil der Besucher gespannt im inneren Rund der gigantischen Lanxess Arena eingefunden, um ja nichts zu verpassen und gemeinsam auf das herannahende Ereignis zu warten. Laut den offiziellen Informationen im Internet und auf den Tickets ist der Beginn heute Abend für 20.00 Uhr angesetzt worden, einen Support gibt es, wie auch schon, 2015 nicht. Während nun die unerschütterliche Revoluzzer-Hymne „People Have The Power“ von Patti Smith aus den lokalen Boxen schallt, nehmen die Fans ihre vorfreudige Euphorie zum Anlass, kurzerhand eine große La-Ola-Welle nach der anderen zu entfachen, die fast ausnahmslos jeden Einzelnen ansteckt und für einige Durchläufe selbst bis in die obersten Ränge hinaufreicht. Doch soll sich die Ankunft der 1978 in Dublin gegründeten „U2“, die gemeinhin als „größte Band der Welt“ gelten, noch um rund eine halbe Stunde verzögern. Das Studioalbum „Songs Of Innocence“ erschien am 09.09.2014 und wurde zu seinem Release automatisch auf allen iTunes-Accounts vorinstalliert, was zu jener Zeit für einen regelrechten Skandal in den Medien sorgte, da sich viele Nutzern bevormundet sahen. Dem weltweiten Erfolg der vier Iren tat dieses Ereignis natürlich keinen Abbruch und so startete ab dem 14.05.2015 die „iNNOCENCE + eXPERIENCE“-Tournee, deren Höhepunkt acht aufeinanderfolgende Konzerte im berühmten Madison Square Garden zu New York sein sollten. Für Deutschland waren im Herbst unterdessen Shows in Berlin und Köln anberaumt, die in Paris aufgezeichnete Live-DVD des emotionalen Gigs, der unter anderem das tragische Drama um die Terroranschläge aufgriff, kam 2016 auf den Markt. Das zugehörige Co-Album „Songs Of Experience“, welches wie sein direkter Vorgänger konzeptionell von den zusammenhängenden Bänden des englischen Dichters William Blake inspiriert ist, sollte noch im Folgejahr veröffentlicht werden, verschob sich aber auf den 01.12.2017. Stattdessen tourte man zum dreißigjährigen Jubiläum von „The Joshua Tree“ durch die USA und Europa. Die aktuelle Konzertreihe steht demnach unter dem Motto „eXPERIENCE + iNNOCENCE“ und feierte ihre Premiere ab Anfang Mai in Tulsa, Oklahoma. Die markantesten Merkmale der bisher wohl aufwändigsten Produktion sind die generelle Aufteilung der Bühne in die eckige, breite „i“-Stage am einen und die runde, kleinere „e“-Stage am anderen Ende der Halle, welche beide von einem meterlangen Laufsteg miteinander verbunden sind und zudem von einer doppelseitigen, begehbaren LED-Wand überschattet werden. Das absolute Highlight der Show, das nun qualitativ aufgestockt wurde und somit ein noch schärferes Bild zeigen kann. Kein Wunder also, dass sowohl Spannung als auch Erwartungen im Publikum wirklich hoch sind. Gegen 20.24 Uhr ist es endlich soweit und unter lautem Jubel wird das Hallenlicht in der Arena beständig gedimmt, bis alles in Dunkelheit liegt. Nervös flirrende Partikel blitzen auf und kriseln langsam vom unteren Rand der riesigen Bildschirme in die Höhe, bis sie schließlich den gesamten Screen als gewaltiges Störbild einnehmen und sich unter beunruhigendem Dröhnen zu einem pulsierenden Röntgenbild in schwarz-weiß manifestieren. Plötzlich sind erschütternde Ausschnitte von brutalen Demonstrationen und faschistischen Aufmärschen zu sehen, gefolgt von bewegenden Nachkriegsszenarien, in denen ganze Städte in Trümmern, Schutt und Asche liegen. Darunter auch Berlin nach dem zweiten Weltkrieg.
Die Momentaufnahmen enden schlussendlich in der berühmten „Rede an die Welt“ von Charlie Chaplin aus „Der große Diktator“ aus 1940: „Es tut mir leid, aber ich möchte nun mal kein Herrscher der Welt sein, denn das liegt mir nicht. Ich möchte weder herrschen, noch irgendwen erobern, sondern jedem Menschen helfen, wo immer ich kann. Den Juden, den Heiden, den Farbigen, den Weißen. Jeder Mensch sollte dem anderen helfen, nur so verbessern wir die Welt. Wir sollten am Glück des andern teilhaben und nicht einander verabscheuen. Hass und Verachtung bringen uns niemals näher. Auf dieser Welt ist Patz genug für jeden und Mutter Erde ist reich genug, um jeden von uns satt zu machen. Das Leben kann ja so erfreulich und wunderbar sein. Wir müssen es nur wieder zu leben lernen. Die Habgier hat das Gute im Menschen verschüttet und Missgunst hat die Seelen vergiftet und uns im Paradeschritt zu Verderb und Blutschuld geführt. Wir haben die Geschwindigkeit entwickelt, aber innerlich sind wir stehen geblieben. Wir lassen Maschinen für uns arbeiten und sie denken auch für uns. Die Klugheit hat uns hochmütig werden lassen, und unser Wissen kalt und hart. Wir sprechen zu viel und fühlen zu wenig. Aber zuerst kommt die Menschlichkeit und dann erst die Maschinen. Vor Klugheit und Wissen kommt Toleranz und Güte. Ohne Menschlichkeit und Nächstenliebe ist unser Dasein nicht lebenswert!“. Abschließend schallen letzte Worte wie ein erhellender Hoffnungsschimmer durch die scheinbar unendliche Finsternis und bleiben tief im Gedächtnis haften: „Ihr dürft nicht verzagen! Auch das bittere Leid, das über uns gekommen ist, ist vergänglich. Die Männer, die heute die Menschlichkeit mit Füßen treten, werden nicht immer da sein. Ihre Grausamkeit stirbt mit ihnen und auch ihr Hass. Die Freiheit, die sie den Menschen genommen haben, wird ihnen dann zurückgegeben werden. Auch wenn es Blut und Tränen kostet, für die Freiheit ist kein Opfer zu groß. Bewahrt euch die Menschlichkeit in euren Herzen und hasst nicht, nur wer nicht geliebt wird hasst, nur wer nicht geliebt wird. Soldaten kämpft nicht für die Sklaverei, kämpft für die Freiheit. Daher im Namen der Demokratie : Lasst und diese Macht nutzen! Lasst uns zusammen stehen! Lasst uns kämpfen für eine neue Welt, für eine anständige Welt! Die jedermann gleiche Chancen gibt, die der Jugend eine Zukunft und den Alten Sicherheit gewährt. Versprochen haben die Unterdrücker das auch, deshalb konnten sie die Macht ergreifen. Das war Lüge, wie überhaupt alles, was sie euch versprachen, diese Verbrecher. Diktatoren wollen die Freiheit nur für sich, das Volk soll versklavt bleiben. Lasst uns diese Ketten sprengen! Lasst uns kämpfen für eine beseere Welt! Lasst uns kämpfen für die Freiheit in der Welt, das ist ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Nieder mit der Unterdrückung, dem Hass und der Intoleranz! Lasst uns kämpfen für eine Welt der Sauberkeit. In der die Vernunft siegt, in der uns Fortschritt und Wissenschaft allen zum Segen reichen. Kameraden, im Namen der Demokratie: Dafür lasst uns streiten!“. Plötzlich erklingen druckvolle Drums und die metallisch sägenden Saiten einer Gitarre werden angeschlagen, grelle Scheinwerfer ziehen behäbig ihre Bahnen durch die Reihen: „The Blackout“! Doch noch ist nichts von der sehnlichst erwarteten Band zu sehen, stattdessen geistern undefinierbare Schatten umher, deren überdimensionale Hände von innen gegen den Bildschirm drücken und nach Freiheit zu streben scheinen. Für einige Sekunden wird der Opener jäh entschleunigt und die Zeit scheint sprichwörtlich still zu stehen, nur eine vertraute Stimme ist noch zu hören, bevor unversehens grelles Strobolicht losbricht und die vier Musiker für einige Sekunden hinter der imposanten Konstruktion sichtbar werden lässt, nur um sie schon wenig später wieder zu verdecken. Vor dem finalen Part erhebt sich die riesige Leinwand unauffällig in die Höhe, schwebt jetzt scheinbar über dem Steg und gewährt den Blick auf Schlagzeuger Larry Mullen Junior, Bassist Adam Clayton, Gitarrist David Howell „The Edge“ Evans und Sänger Paul David „Bono“ Hewson.
Tosender Applaus ist die logische Konsequenz, während die drei Mitglieder nun über das Publikum zur „i“-Stage schreiten und sich an ihren dortigen Instrumenten positionieren. Einzig der Frontmann bleibt noch am Ende des stimmungsvoll beleuchteten Laufstegs stehen, welcher nun, ähnlicher einer meterlangen Brücke, schräg in die Lüfte angehoben wird. Unter dem Einsatz der fordernden Streicher von „Lights Of Home“ beginnt Bono jetzt damit, Schritt für Schritt die weit entfernte Spitze zu erklimmen. An deren Ende endlich angekommen, sinkt er zum Gitarren-Solo auf seine Knie nieder und schließt die Augen. Die Überführung senkt sich behäbig herab und schon sprintet er energetisch auf die runde „e-Stage“, um den letzten Refrain inmitten der Fans zu singen. Alle Arme steigen unverzüglich nach oben und machen mit, es hat ein bisschen etwas von einem positiv aufgeladenen Gospel-Chor. „Herzlich Willkommen, meine Damen und Herren. Guten Abend, Köln!“, begrüßt Bono die restlos ausverkaufte Lanxess Arena, als er danach zu seinen Bandkollegen zurückkehrt. „Hier sind „U2“. Danke, dass ihr alle da seid, um gemeinsam mit uns über unser aller Leben nachzudenken.“, führt er weiter aus und wird schließlich von einem wohlbekannten, powernden Riff abgelöst: „I Will Follow“. Sichtlich gelöst springt der Frontmann über die Bretter, wirbelt sein Mikrofonstativ umher und lächelt. Insbesondere die vorderen Reihen danken es ihm und spenden reichlich Beifall, so auch bei „Red Flag Day“. Danach hält Köln den Atem an, denn als nächstes folgt der Klassiker „Beautiful Day“. Genau der Song, nach dem das Konzert am 01.09.2018 in der Mercedes-Benz Arena Berlin aufgrund von kritischen Stimmproblemen vorzeitig abgebrochen wurde. Doch jetzt funktioniert alles, von weiteren Gefährdungen keinerlei Spur. Eine erneute Zwangspause scheint glücklicherweise ausgeschlossen werden zu können. „Heute läuft es wirklich gut, oder?“, schmunzelt der Sänger so erleichtert wie verlegen. Köln darf aufatmen. Zum sphärischen „The Ocean“ wird die Bühne in tiefblaues Licht gehüllt, sanftes Wellenrauschen erfüllt den Saal zunehmend. Die Atmosphäre ist beklommen und mystisch, Bono hält gedankenverloren einen Monolog über Sinnsuche und Leben. „Iris?“, fragt er mehrmals bedeutungsschwanger und blickt sich suchend um. Seine Stimme mutet für einen Moment schon fast verletzlich an und hallt wie ein unsicheres Echo durch das fahle Halbdunkel der Arena. Er steht am äußeren Rand des langen Stegs und sieht zur sich unmittelbar darüber befindlichen Leinwand hinauf, die nun zu „Iris (Hold Me Close)“, einer durch und durch persönlichen Ode an seine verstorbene Mutter, bewegtes Bildmaterial aus dem Familienarchiv zeigt. Im Refrain sind leuchtende Sternbilder zu sehen, die förmlich über den Köpfen des Publikums am kaum spürbar visualisierten Firmament zu schweben scheinen. Hier verschwimmen Video und Realität, werden beeindruckend lebensecht eine geschlossene Einheit. Doch damit nicht genug: „Cedarwood Road“ folgt, mit welchem sich der Fronter zurück in seine Heimat und die Straßen seiner Kindheit begibt. Eine mitreißende Zeitreise beginnt! Dazu steigt Bono ein weiteres Mal zwischen die Wände der doppelseitigen Screens, ist jetzt genau inmitten der Leinwand, die nun abermals hochgefahren wird. Zum straight rockenden Rhythmus groovend, spaziert er lässig über den videographischen Asphalt. Hohe Laternenmasten und schnelle Autos ziehen im Fahrtwind an ihm vorbei, auf einmal wehen gar überdimensionale Kirschblütenblätter durch die Luft, derweil begeht Edge den Steg darunter und spielt sein Solo. Wirkungsvoll und beeindruckend! Für kurze Zeit wird es wieder dunkel, nur wenig später wird die gesamte Halle in ein dunkles Rot getaucht. Die Bildschirme zeigen kleine Gassen und enge Häuserschluchten in malerischem Stil, plötzlich schreckt ein klirrender Takt auf: Mullen Junior marschiert, auf einer kleinen Snare trommelnd, über den Laufsteg voran. Clayton und Evans folgen unmittelbar, während Bono am anderen Ende der Halle das kritische „Sunday Bloody Sunday“ anstimmt. Viel Animation ist hier nicht nötig, alle singen den aufrüttelnden Evergreen fraglos laut mit. Das packende „Until The End Of The World“ spielen der Drummer und der Bassist danach allerdings wieder auf der „i“-Stage. Nur Evans bleibt als Einziger in der Leinwand stehen, Bono agiert hingegen von der kleineren „e“-Stage aus. Die Kameras werfen sein Konterfei in Übergröße auf die Bildfläche, sodass es nun aussieht, als würde er tatsächlich eine geballte Ladung Wasser in Richtung des Gitarristen spucken. Ein toller Effekt! Plötzlich schwenkt eine große Glühbirne über den Screen und zerberstet. Hohe Wellen brechen herein, schlagen über dem Publikum zusammen und spülen diverse Gegenstände herbei. Jetzt tritt Bono ebenfalls wieder in die Konstruktion, während die Flut losbricht. Danach herrschen vorerst Dunkelheit und Stille...
Nachdem der Applaus langsam abgeklungen ist, richten sich alle Blicke erneut auf die riesige Videowand, auf der jetzt eine längere Sequenz zu sehen ist: Wie einst schon im raffiniert gestalteten Musikvideo zum „Batman Forever“-Soundtrack, ist jene in Comic-Optik gehalten und zeigt hier die stylisch überzeichneten Bandmitglieder zunächst bei einigen Heldentaten, dann im gemeinsamen Dialog in einer Limousine mit stilechten Sprechblasen und zum Schluss auf dem roten Teppich im Blitzlichtgewitter der Paparazzi. Dazu dröhnt das dunkel-mystische „Hold Me, Thrill Me, Kiss Me, Kill Me“ im Remix von Gabin Friday. Unversehens dringen dazwischen weitere, wohlbekannte Klänge an die Ohren der Zuschauer. Einige Fans erkennen dies sofort und jubeln begeistert. Nun sind die übergroßen Silhouetten der vier Iren auf den Bildschirmen zu sehen, die im Zeitraffer nacheinander in Richtung der rundlichen „i“-Stage schreiten, auf welcher bereits die Instrumente aufgebaut worden sind. Unter stürmischem Applaus erscheinen „U2“ tatsächlich auf ebendieser, um direkt mit dem kraftvollen Doppel aus „Elevation“ und „Vertigo“ durchzustarten. Schnell kocht die Stimmung hoch und die Lanxess Arena wird zu einem wahren Hexenkessel, echte Rockstars wissen eben genau, wie’s geht. Bono trägt nun Zylinder und ist dunkel geschminkt. Nicht ganz ohne Grund, denn wie auch schon auf der „Zoo-TV“-Tour von 1992, verkörpert er nun das pure Böse: Mr. MacPhisto. Und so lässt er es sich auch bei „Even Better Than The Real Thing“ nicht nehmen, mit wilden Gestiken über die Bretter zu wirbeln, diese Grimassen zu schneiden und seine Kollegen beim musizieren zu drangsalieren, bevor er sich dann vor einem kleinen Spiegel, dessen Bild natürlich abermals vergrößert und somit für alle Besucher klar ersichtlich auf die Screens geworfen wird, mit einem spitzzüngigen Monolog höchstpersönlich ans Publikum wendet. „Es scheint mir so, dass mein alter Freund Bono seine Stimme in Berlin verloren hat... Es muss ihm sein kleines, irisches Herz gebrochen haben, nicht für euch singen zu können!“, lacht er, lobt anschließend die vergangenen Zustände in Chemnitz oder wettert ungeniert über Campino von „Die Toten Hosen“ für seine Courage. Nach dem lässigen „Acrobat“, zu dem eine funkelnde Discokugel von der Decke herabschwebt, hat der Spuk jedoch wieder ein Ende und der Sänger schminkt sich ab, ist zu „You‘re The Best Thing About Me“, das die Band gemeinsam in einer komplett akustischen Version darbietet, wieder ganz er selbst. „Das ist die größte Rock‘n‘Roll-Show des Planeten. Lasst uns noch einmal wie damals in den Neunzigern entspannen und uns wie Kinder fühlen!“, fordert Bono zum beschwingten „Summer Of Love“, bei welchem lediglich er selbst und Edge mit seiner Gitarre im Fokus stehen. Die Atmosphäre weicht deutlich vom technischen Bombast der letzten neunzig Minuten ab, ist jetzt kaum mehr professionell distanziert, sondern viel eher puristisch und intim. Die beiden Musiker scheinen ihren Fans wie zum Greifen nahe, einige Feuerzeuge strecken sich in die Höhe. Unterdessen verändert sich der Bühnenboden und visualisiert wärmend glühende Lava. Auf den Monitoren werden einige Szenen von Flüchtlingsbooten im tobenden Mittelmeer abgespielt, danach von innerstädtischen Aufständen, brennenden Autowracks und gewaltbereiten Protestanten. Die Kreuzzüge unserer Zeit... Mit einem Megafon in seinen Händen appelliert Bono lautstark an die Besucher, sich intensiv gegen Faschismus und Fremdenfeindlichkeit aufzulehnen, wieder Menschlichkeit und Verständnis zu zeigen. Für mehr Miteinander und weniger Gegeneinander. Um dieses klare Statement zusätzlich zu untermauern, hätte man sich wohl keine bessere Hymne aussuchen können, als das grandiose „Pride (In The Name Of Love)“. Mullen Junior bespielt sein Drum Kit auf der großen „i“-Stage, Clayton und Evans stehen überraschend auf hohen Podesten mitten im Innenraum. „Wir lieben dich, Deutschland. Nie wieder Chemnitz!“, ruft der Sänger energisch in die Arena hinein, auf den Screens erscheint der aktuelle Hashtag zur Gegendemonstration „Wir sind mehr“ unter zustimmendem Beifall. Das pop-affine „Get Out Of Your Own Way“ besiegelt sodann den interkulturellen Zusammenhalt, ebenso anschließend die aktualisierte Fassung von „New Year‘s Day“, zu dem ein riesiges Backdrop mit der EU-Flagge darauf hochgezogen wird und Bono auf eine Erhöhung hinter dem Schlagzeug steigt, um die Menge zum gleichmäßigen Mitklatschen zu animieren, bis endlich alle Hände in der Lanxess Arena oben sind. „Die wahren Helden sind noch immer Ärzte, Feuerwehrmänner, Pfleger und Lehrer!“, konstatiert er und erntet dafür verdient Zustimmung. Nun werden zahlreiche Lichtsäulen von der Hallendecke heruntergelassen, welche sowohl die Hauptbühne als auch den Steg erhellend säumen: „City Of Blinding Lights“ wird optisch ebenso großartig inszeniert, wie auch der Rest der Show und weiß vor allem als vorzeitiger Schlusspunkt nachhaltig zu berühren. Unter tosenden Jubelstürmen verbeugen sich die vier Musiker lächelnd vor dem begeisterten Kölner Publikum, danach wird es abermals dunkel und allen Anwesenden ist klar, dass das noch längst nicht alles war.
Nach wenigen Minuten geht es auch schon weiter, doch bevor „U2“ ein weiteres Mal für eine Zugabe zurückkehren, wird der offizielle Trailer zur Kampagne „Women Of The World“ auf der Leinwand abgespielt, in dem neben einigen Zitaten auch die Tochter von Gitarrist Evans zu sehen ist. Auf ihrem Kopf der Soldatenhelm aus dem Artwork zum erfolgreichen Album „War“ von 1983. „Armut ist sexistisch“ prangt zum Ende des Kurzfilms in großen Lettern auf den Bildflächen und stimmt in diesem Moment vermutlich nicht gerade Wenige nachdenklich. Das unerschütterliche „One“ hellt die gesamte Arena dann wortwörtlich wieder auf, denn im zweiten Refrain wird das Hallenlicht komplett ausgeschaltet, was die Fans sogleich zum Anlass nehmen, ihre Feuerzeuge und Handys empor zu strecken. Ein bewegendes Bild! Dass wahre Liebe noch immer unser höchstes Gut ist, zeigt „Love Is Bigger Than Anything Its Way“, wo jetzt nochmals ordentlich mitgesungen werden darf, bevor der endgültige Abschied naht, zu dem das Scheinwerferlicht auf ein absolutes Minimum reduziert wird. Jedes Bandmitglied steht in einem einzelnen Kegel, ansonsten ist es dunkel. Bono singt die erste Strophe noch gemeinsam bei den anderen Musikern auf der „i“-Stage, danach geht er langsam, aber doch nicht minder bestimmt, ein paar Schritte nach vorn, betritt so abermals den Steg und streift unter den leisen Piano-Tupfern von „13 (There Is A Light)“ durch die Schatten, bis er an dessen Ende wieder auf der runden „e“-Stage angelangt. Auf dieser steht die kleine Replikation eines schwarzen Backsteinhauses, dessen Dach er nun behutsam nach oben klappt und eine mittelgroße Glühbirne, welche als Zeichen der Hoffnung in den Videos während der Show immer wieder eine tragende Rolle spielte, an einem langen Kabel daraus hervorholt. Vorsichtig umgreift er die nunmehr einzige Lichtquelle in der Arena mit einer Hand und zieht sie ganz nahe an sein Gesicht heran. Symbolisiert durch den Wechsel zwischen beiden Bühnen, ist er in den vergangenen zwei Stunden zusammen mit dem Publikum den langen Weg von der unschuldigen Naivität, die wir alle uns immer doch ein Stück weit bewahren sollten, bis hin zur prägenden, nicht selten aber auch ernüchternden Erfahrung gegangen. Hier endet die Reise nun. Zum finalen Chorus holt der Sänger kräftig aus und schmettert die schimmernde Leuchte bedeutungsschwer in die Finsternis hinein, auf das sie dem Publikum ihr Licht schenken und die Kölner Nacht erhellen möge. Während die Glühbirne jetzt im großen Radius von links nach rechts umherschwenkt und somit gemächlich auspendelt, spricht Bono die letzten Zeilen und verschwindet anschließend in den Weiten der Dunkelheit. Erst als die kleine Lampe nach langen Minuten über der Rundbühne zum stehen kommt, wird es in der Lanxess Arena zu „This Must Be The Place“ von den „Talking Heads“ wieder hell. Einige wenige Fans verlassen bereits die Halle, doch der Großteil verharrt noch auf seinen Plätzen und blickt mit einer Mischung aus leichter Irritation und Wehmut auf die verlassene Szenerie. Auch meine Begleitung und ich haben es heute ausnahmsweise mal nicht eilig und stattdessen Zeit genug, das gerade Erlebte bei einem Absacker angemessen Revue passieren zu lassen. Abschließend bleibt zu sagen, dass die Konzerte der „eXPERIENCE + iNNOCENCE“-Tournee eine durchweg bombastisch inszenierte und dramaturgisch perfekt in Szene gesetzte, zuweilen angenehm pathosgetränkte, wohldosiert theatralische Rock-Oper mit ungemein starkem Polit-Charakter sind, die in allen Belangen ihresgleichen suchen. Sicher, nicht gerade wenig Besucher werden zu bemängeln haben, dass der Fokus in den exakt einhundertvierzig Minuten deutlich auf aktuellen Geschehnissen, unleugbaren Missständen und klären Statements dazu lag, was sich nicht allein nur in den ausufernden Ansagen von Sänger Bono, sondern auch in den jeweiligen Visualisierungen der Songs niederschlug. Jedoch ist ebenfalls anzumerken, dass „U2“ schon immer eine sozialkritische und politische Band waren, die mehr als nur bespaßendes Entertainment bieten wollten. Eben deshalb, weil es in der Summe nämlich genau das ist, was damals wie heute leider nie oft genug propagiert werden kann und was die Welt in diesen Zeiten braucht. Natürlich liegt es mit geöffneten Augen und dem nötigen Weitblick nicht gerade fern, der heute zelebrierten „Liebe und Frieden über alles“-Attitüde eine oftmals realitätsferne Gutmenschlichkeit oder gar Tagträumerei zu unterstellen und mit Sicherheit kann Musik allein keine Lösung, wohl aber ein befeuernder Anstoß sein. Letzten Endes ist es an uns allen, angefangen bei einer Veränderung jeden Individuums im Einzelnen, gemeinsam etwas bewegen zu können und sich dazu die Frage „Are you tough enough to be kind?“ zu stellen. Und so bleibt zum Schluss die wohlige Gewissheit, dass, auch wenn das Leben in vielen seiner Momente noch so dunkel erscheint, irgendwo immer ein letztes, kleines Licht brennt und uns den Weg leuchten kann, wenn wir es nur suchen und ihm gewissenhaft folgen...
Setlist:
01. Intro
02. The Blackout
03. Lights Of Home
04. I Will Follow
05. Red Flag Day
06. Beautiful Day
07. The Ocean
08. Iris (Hold Me Close)
09. Cedarwood Road
10. Sunday Bloody Sunday
11. Until The End Of The World
12. Hold Me, Thrill Me, Kiss Me, Kill Me
13. Elevation
14. Vertigo
15. Even Better Than The Real Thing
16. Acrobat
17. You‘re The Best Thing About Me
18. Summer Of Love
19. Pride (In The Name Of Love)
20. Get Out Of Your Own Way
21. New Year‘s Day
22. City Of Blinding Lights
23. Women Of The World (Interlude)
24. One
25. Love Is Bigger Than Anything In It‘s Way
26. 13 (There Is A Light)