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BEITRÄGE:

  • AutorenbildChristoph Lorenz

The Prodigy - Muse - Emigrate (2018)


The Prodigy - No Tourists (2018)

Genre: Electro / Alternative

Release: 02.11.2018

Label: Bmg Rights Management (Warner)

Spielzeit: 38 Minuten

Fazit:

Welch kleine Kiesel einen großen Fels doch letztendlich ins Rollen bringen können: Als der Engländer Liam Howlett einst ein DJ-Set auf einer Party gab, wurde er darauf von Leeroy Thornhill und seinem Freund Keith Flint angesprochen, die seine Musik mochten und ihn daraufhin nach einem Tape fragten. Nur allzu gerne händigte er ihnen eines aus: Auf der einen Seite den entsprechenden Mix und auf der anderen Seite seine eigenen Tracks. Flint zeigte sich von der werbewirksamen Geste zunächst nur wenig begeistert, änderte seine Meinung aber schlagartig, als er sich die Songs zum ersten Mal genauer anhörte. Es sei laut eigener Aussage wie ein „Weihnachtsgeschenk, dass man sich nicht gewünscht hat“ gewesen, woraufhin er mit den Beiden unbedingt eine Band gründen wollte. Benannt nach dem bekannten Synthesizer-Modell Moog Prodigy, wobei das Wort „Prodigy“ hier so viel wie „Wunder“ oder „Wunderkind“ bedeutet, buchten sie ihren ersten Gig in London, bei welchem sie auch Keith „Maxim Reality“ Palmer kennenlernten, der daraufhin als MC mit einstieg. So gab das frisch zusammengeschweißte Kollektiv fortan landesweit einige Shows, um sich und die Musik weiter bekannt zu machen, bis Howlett die anderen Mitglieder im Dezember 1990 mit einem Plattenvertrag bei XL Recordings überraschte, unter deren Flagge nur ein Jahr später das Debüt „When Evil Lurks“ veröffentlicht wurde. Dieses enthielt unter anderem vier Breakbeat-Tracks, die auch auf der Demo zu finden waren, mit welcher sich einst um den Vertrag beworben wurde. Die beiden Singles „Charly“ und „Everybody In The Place“ wurden riesige Erfolge und auch der folgende Zweitling „Experience“ ließ die Fangemeinde wachsen, sodass man sich bei „Music For The Jilted Generation“ mit Anleihen an Funk, Industrial Rock und Hip-Hop an mutigere Experimente wagen konnte. Eine sehr gute Entscheidung, chartete der Longplayer doch sofort auf den ersten Platz der britischen Top Ten und wurde über eine Millionen Mal verkauft. Es folgten einige Auftritte auf einschlägigen Festivals, bis 1996 mit „The Fat Of The Land“, das in siebenundzwanzig Ländern die Spitze erklomm, dann der endgültige Durchbruch gelang. Nach der ersten, großen Welttournee sorgte das Video zur Auskopplung von „Smack My Bitch Up“ jedoch für derart viele Skandale und Proteste, dass Howlett wenig später bekannt gab, dass es kein weiteres Album mehr geben würde. Darauf herrschte für ganze fünf Jahre Funkstille, während der sich die einzelnen Member ihren jeweiligen Solo-Projekten widmeten und Thornhill ausstieg. Im Jahr 2004 versuchte man mit „Always Outnumbered, Never Outgunned“, welches in einer Schaffenskrise entstand und nur wenige Kritiker überzeugen konnte, ein Comeback. Begleitet von einer Single-Collection sollte mit den größten Hits der Band auch wieder getourt werden, „Invaders Must Die“ machte später wieder einiges an Boden gut und verhalf den Musikern dazu, weitestgehend zu alter Stärke zurückzukehren. Nach dem offiziellen Live-Release „World‘s On Fire“ und weiterem Touren, kam 2015 mit „The Day Is My Enemy“ der vorerst letzte Ableger in die Regale. Für den diesjährigen Herbst haben sich die Electro-Punker erneut viel vorgenommen und schicken am 02.11.2018 das achte Studioalbum „No Tourists“ in die Welt hinaus.

Die Motoren werden gestartet, das Gaspedal fest durchgedrückt... Zur bereits am 19.07.2018 veröffentlichten Single „Need Some1“ setzt sich der tonnenschwere Doppeldecker endlich von jetzt auf gleich in Bewegung, bereit zur eskalierenden Rundfahrt aus nervösen Synthesizern, stark verzerrten Sounds und einem polternden Bass. Die rasante Nummer macht ganz offensichtlich keine Kompromisse und gleicht in ihrem bewusst wirren Arrangement fast schon einem auditiven Drogentrip im absoluten Highspeed-Exzess, stets von einem catchy Sample von Loleatta Holloway im House-Style untermauert, dass in diesem größtenteils instrumental fokussierten Stück als Ersatz für Lyrics und Gesang dient. Ein klar versierter Club-Kracher! „Lightup The Sky“ lässt danach kurzzeitig poppige Allüren erahnen, überrascht aber schnell mit einem krassen Drop und bewegt sich fortan sehr basslastig durch die nächsten Minuten. Immerzu von gelegentlich eingestreuten Effekten, messerscharfen Synthie-Spitzen und den bezeichnenden Breakbeats durchsetzt, die den Sound der Briten einst so legendär machten. Ebenso gestalten sich die Abläufe beim finsteren „We Live Forever“, bis es mit dem Titeltrack „No Tourists“ kurzzeitig im eher gemäßigten Mid-Tempo vorangeht. Überhaupt sind es die vielen Avancen, die charmanten (Selbst-)Zitate und kleinen Anleihen an die Neunziger und die Hochzeit des Genres, die hier immer wieder regieren und teils für ein schönes Gefühl der Nostalgie sorgen. Das hat einerseits zwar ordentlich Wiedererkennungswert und lässt in so mancher Erinnerung schwelgen, gleichzeitig aber jegliche Innovation vermissen. Auch wenn sich die Qualität der jeweiligen Songs sowohl produktionstechnisch als auch melodiös durchgängig auf einem hohen Niveau bewegt, fehlt doch ein markanter Hit oder erinnerungswürdige Momente. Viel eher scheint es so, dass hier oftmals krampfhaft versucht wird, das Rezept oder bewährte Muster zu kopieren, um an vergangene Großtaten anknüpfen zu können. Den einstigen Pioniergeist alter Tage erreicht man so jedoch verständlicherweise nicht. Die Kollaboration mit dem Rapper-Duo „Ho99o9“ lässt bereits erahnen, wie es wohl zugehen könnte: „Fight Fire With Fire“ ist ein druckvoll wütender Stampfer und knallt dem Hörer die aggressiven Bässe nur so um die Ohren - koordinierter, überdosierter Krach, der Laune macht... Zumindest einige Male. Ein echtes Highlight folgt mit dem Betreten der „Timebomb Zone“, das von einer gepitchten Stimme eingeleitet wird und klar auf klassischem Rave basiert. Die jubilierende Hymne „Champions Of London“ zelebriert unverblümt den eigenen Legenden-Status und ist gerade wegen ihrer dichten Oldschool-Atmosphäre so gelungen, das von einem YouTube-Video-Sample getragene „Boom Boom Tap“ wagt mit überdrehtem Sound-Chaos danach wieder den beherzten Sprung in die Moderne. Die funkig groovende Essenz eines „Resonate“ gefällt, überrascht aber längst nicht mehr und endet ohne sonderlich bleibenden Eindruck, bis mit „Give Me A Signal“ und Feature-Gast Barns Courtney das große Finale naht. Hier dominiert eine gelungene Mischung aus alten und neuen Tugenden, die nochmal bestens greift und irgendwie das Gefühl hinterlässt, dass da zuvor offensichtlich doch noch etwas mehr drin gewesen wäre. So ist „No Tourists“ am Ende wirklich ein grundsolides Machwerk, dem es in seiner arg kurzen Spielzeit von unter vierzig Minuten letztlich leider zu sehr an einer eigenen Dynamik mangelt und das sich viel zu wenig traut, um eine weitere Revolution anzustoßen. Dafür ist die vorherrschende Stagnation einfach an zu vielen Stellen präsent, die einstigen Experimente gegenüber den Vorgängern hingegen zu wenig. Alle Fans greifen natürlich sowieso zu und werden mit den frischen Tunes vermutlich gut unterhalten und auch als Neueinstieg eignet sich der neueste Release gut. Bleibenden Eindruck im Business hinterlassen oder wirklich abholen kann das zehn Track starke Werk leider nicht. „Wo ist der Bus mit den Leuten, die es interessiert“, wäre definitiv zu tiefgestapelt, dennoch sind „The Prodigy“ anno 2018 nicht viel mehr, als eine Kopie ihrer selbst und Touristen in der eigenen Vergangenheit.

Informationen:

http://theprodigy.com

https://www.facebook.com/theprodigyofficial/

 

Muse - Simulation Theory (2018)

Genre: Indie / Pop / Rock

Release: 09.11.2018

Label: Warner Music

Spielzeit: 43 Minuten

Fazit:

Auch die ganz Großen haben irgendwann einmal klein angefangen: Anfang der Neunziger besuchten Schlagzeuger Dominic Howard, Bassist Christopher Wolstenholme und Frontmann Matthew Bellamy im britischen Teignmouth noch dasselbe College und spielten dort in verschiedenen Bands, bis sie sich 1994 dann unter dem Namen „Rocket Baby Dolls“ zusammenschlossen, an einem „Battle Of The Bands“-Contest und diesen gewannen. Daraufhin verwarfen sie ihre ambitionierten Zukunftspläne und benannten das Projekt in „Muse“ um. Zunächst orientierte man sich, als Gegenbewegung zum bekannten Brit-Pop, musikalisch noch am Grunge. Nach ersten Konzerten lernte das Trio Dennis Smith kennen, der ein eigenes Studio in Cornwall besaß und so die ersten, richtigen Aufnahmen produzierte. In diesem Zuge erschienen auch die selbstbetitelte EP und „Muscle Museum“, welche die Aufmerksamkeit der Journalisten auf den Plan riefen. Während die lokalen Labels anfänglich noch zögerten, bekamen schließlich die Amerikaner von Maverick Records den Zuschlag, die „Muse“ 1998 unter Vertrag nahmen und das Debüt „Showbiz“ veröffentlichten. Im Folgenden spielte man nun sowohl erste Shows, als Support von „Savage Garden“ als auch Festivals in Australien, Europa und sogar Japan. Beim Zweitling „Origin Of Symmetry“ wagte man sich klangtechnisch an mehrere Experimente heran. Nach der Trennung von der Plattenfirma, die Bellamys Gesang für nicht massentauglich genug erachteten, legte der Dreier zunächst eine kreative Pause ein, die durch „Hullaballoo“, einem Sampler mit bisher unveröffentlichten Tracks, sowie einem Live-Mitschnitt überbrückt würde. Im Jahr 2003 ging es mit „Absolution“ weiter, gefolgt von einer internationalen Tour, an deren Ende Howards Vater einem Herzinfarkt erlag. Fortan ging die gesamte Band durch ein emotionales Tief, weswegen das Folgealbum thematisch deutlich positiver ausfallen sollte. Die zuvor angesetzten Konzerte wurden bis auf Weiteres verschoben, „Black Holes And Revelations“ markierte 2006 dann das Comeback, welches durch zwei Shows im neu erbauten Wembley Stadion und eine DVD-Aufzeichnung gekrönt wurde. „The Resistance“ gelang anno 2009 bereits am Release-Tag der Sprung auf den ersten Platz der „iTunes“-Charts, eine ausgiebige Welttournee und handverlesene Festival-Gigs, wie etwa ein Headliner-Slot auf dem Glastonbury oder bei Rock am Ring, folgten. Allerdings ließ das fünfte Werk erstmals aber auch vermehrt kritische Töne der Fanbase laut werden, die eine deutliche Entwicklung in Richtung des Mainstreams beanstandeten, was sich auch beim Nachfolger „The 2nd Law“ umso mehr verstärkte. Das sollte sich 2015 mit „Drones“, das sich weitestgehend von gewissen Elementen seiner beiden Vorgänger entfernte und zumindest marginal zum ursprünglichen Stil zurückkehrte, wieder ändern. Es ist also nicht zu leugnen, dass das Dreigespann, das mit diversen Einflüssen aus Alternative, Progessive Rock, Pop, Electro und Klassik über die Zeit seinen ganz eigenen Sound kreiert hat und dafür gar mit einem Grammy prämiert wurde, mittlerweile zu den weltweit erfolgreichsten Acts gehört. Umso größer die Aufregung also, als für Ende diesen Jahres ein komplett neues Studioalbum angekündigt wurde. Unter anderem deswegen auch, weil die insgesamt vier vorausgeschickten Singles stilistisch wohl unterschiedlicher nicht hätten sein können und somit äußerst differenzierte Reaktionen hervorriefen. Am 09.11.2018 erscheint „Simulation Theory“ unter Warner Music. Ob das 80er-Revival gelungen ist, lest ihr jetzt.

Das eröffnende „Algorithm“ lässt keinen Zweifel an der just auserkorenen Gangart aufkommen und kündigt sich sogleich durch eine charmante 8-Bit-Fanfare in direkter Kombination mit epischen Streichern und kühlen E-Drums im stampfend marschierenden Rhythmus an. Das Ganze hat durchaus beabsichtigt etwas von einem fiktiven Film- oder Videospiel-Score, der etwa an visuelle 80er-Ikonen wie „Blade Runner“ oder „Tron“ gemahnt und sich immer mehr in eine theatralische, von reichlich Pathos aufgeladene Ouvertüre steigert, bis mit dem vorab veröffentlichten „The Dark Side“ vollends in die alternative Wirklichkeit eingetaucht werden darf. Hier werden bestens bekannte Trademarks, wie die typischen Arpeggio-Gitarren und der fast schon operettenhafte Aufzug im „Queen“-Style mit retrofuturistischen Synth-Wave-Einflüssen verquickt und zum nostalgisch groovenden Bombast aufgezogen, was ausgesprochen gut funktioniert. Auch wird hier eingangs schon das jeweilige Konzept weitestgehend klar abgesteckt, das sich auf das Denkmodell der sogenannten „Simulationshypothese“ des schwedischen Philosophen Nick Bostrom stützt, die besagt, dass alle Menschen nicht real existent und lediglich nachgeahmte Projektionen seien. Das lyrische Ich erkennt diese trügerische Wahrheit und hält fortan gegen das System. „Pressure“ entfernt sich danach erstmalig etwas von diesem Konzept und erweitert den neuen-alten Sound um klassische Big-Band- und Glam-Elemente, welche den soften Rock mit zusätzlichen Bläsern anreichern, was erstaunlich gut funktioniert und zudem äußerst schlüssig klingt. Merklich schwerere Kost ist da schon das folgende „Propaganda“, welches sich anfangs massiv scheppernd gibt und sodann einen völlig überraschenden Schnitt in Richtung Funk und R'n'B erfährt, die schnittigen Slide-Riffs tun zwischengeschaltet ihr Übriges, die Experiment-Schraube weiter anzuziehen. Gewisse Liebäugeleien mit dem legendären „Prince“ sind hier ebenso wenig von der Hand zu weisen, wie offen zugestanden werden muss, dass das Finale Endergebnis ob der gewollten Kontraste und arg bemühten Komplexität streckenweise leider verwirrend und arg unrund wirkt. Ebenso dann das etwas überladene „Break It To Me“, das jedoch durch seine kantig verzerrten Gitarren, starken Disharmonien und orientalischen Einflüsse besticht und sich somit angenehm abhebt. Ein Tätigkeitsfeld, das es im musikalischen Universum des Trios neben alternativem Rock und Progressive ebenfalls schon seit jeher gab, ist die bloße Pop-Affinität, die ganz klar auf eingängige Single-Auskopplungen für Radiostationen und Streamingdienste abzielt. Es ist gewollt leicht zu konsumierende Kost, aber dennoch mit der typischen Handschrift versehen und ohne dabei zu seicht zu wirken. Das süßlich verträumte „Something Human“ ist einer dieser Songs, eine harmlose Pop-Ballade mit leichten Akustik-Einschüben, die zuweilen deutlich Erinnerungen an „A Little Respect“ von „Erasure“ wachruft und mit „Thought Contagion“ gibt es danach die gewohnte Hymne für die Live-Konzerte, samt simplem Chorus zum gemeinsamen Mitsingen. Das in Kooperation mit der schwedischen Sängerin Tove Lo entstandene „Get Up And Fight“ geht mit seinen mainstreamigen Dance-Rhythmen und powerndem Mutmach-Refrain in keine andere Richtung. Der charmant blubbernde Synthie-Rocker „Blockades“ kommt mit zunehmender Spieldauer überraschend klassisch daher, das gospelartige „Dig Down“ ruft mit seinem starken Fokus auf Percussion und Beat hingegen starke Erinnerungen an „Madness“ wach, bevor sich der Reigen mit dem atmosphärischen „The Void“ spektakulär und theatralisch schließt. „Simulation Theory“ ist letzten Endes glücklicherweise nicht das Effektgewitter geworden, das von vielen Fans befürchtet wurde, auch wenn der Fokus offensichtlich verstärkt auf einem elektronisch angesiedelten Fundament liegt. Statt overstylter Reizüberflutung und 80er-Überdosis erwartet die Hörer viel mehr ein soundtechnisches Sammelsurium lange bekannter Elemente, vor allem aber Gewohntes... Nur eben streckenweise deutlich softer und mit einem (zu sehr) gewollten, arg plakativen Retro-Charme versehen, der mächtig bemüht und dabei nicht immer geglückt auf die Nostalgie-Ader abzielt. Eine Mixtur aus Rock, Indie und Urban, welche die beiden Lager zwar nicht weiter spalten, dafür aber auch nicht näher zusammenrücken wird und somit nur die logische Konsequenz der aktuellen Ära ist.

Informationen:

https://simulationtheory.muse.mu

https://www.facebook.com/muse/

 

Emigrate - A Million Degrees (2018)

Genre: Rock / Alternative

Release: 30.11.2018

Label: Vertigo Berlin (Universal Music)

Spielzeit: 46 Minuten

Fazit:

„She comes. He comes. We come. Welcome!“, hieß es in der Bridge des einleitenden Titelsongs zum gleichnamigen, anno 2005 gegründeten Solo-Projekt namens „Emigrate“. Und tatsächlich hatte sich der Berliner „Rammstein“-Gitarrist Richard Zven Kruspe, der damals noch zeitweise in New York City lebte, mit jener Neuschöpfung ein ganz eigenes Refugium für Kreativarbeiten fernab des nicht selten strammen Korsetts der NDH geschaffen. Während entsprechende Hauptband nach ihrem letzten Release „Rosenrot“ also pausierte, versandte man die frohe Kunde via Newsletter und bot einige Songs zum Download an, bis zwei Jahre später dann das selbstbetitelte Debüt erschien. Seitdem hat sich viel getan und so ist die Formation, die sich im weitesten Sinne dem Industrial und Alternative Rock verschrieben hat, mittlerweile zu einem international angelegten All-Star-Kader angewachsen, was nicht zuletzt auch in den namhaften Mitgliedern begründet liegt: So verdingen sich etwa die beiden Schlagzeuger Mikko Sirén („Apocalyptica“) und Joe Letz („Combichrist“) hier genauso, wie Bassist Arnaud Giroux, Gitarrist Olsen Involtini oder Sängerin Margaux Bossieux („Dirty Mary“), mit welcher Kruspe seit sieben Jahren liiert ist. Mit „Silent So Long“ kam 2014 der langersehnte Nachfolger auf den Markt und legte in allen möglichen Belangen nach. Kein Wunder, lasen sich die Feature-Gäste wie „Korn“-Sänger Jonathan Davis, Marilyn Manson oder „Motörhead“-Ikone Lemmy Kilmister auf der Tracklist doch wie ein absolutes Who-is-Who der Metal-Szene. Die Arbeiten an einem dritten Werk gingen laut eigenen Aussagen sogar so gut voran, dass es bereits nur ein Jahr später seinen Release feiern sollte, doch ein Wasserschaden vernichtete sowohl alle bisherigen Aufnahmen als auch die Sicherungskopien dazu. Ganz offensichtlich Glück im Unglück, wie sich dann herausstellen sollte, denn auf diesem (Um)weg kam den entsprechenden Songs nochmals eine intensive Überarbeitung zu, was dem endgültigen Material hörbar gutgetan hätte, so Kruspe. Am 30.11.2018 ist es nun aber endlich soweit und „A Million Degrees“ erblickt unter der produktionstechnischen Mitarbeit von Sky van Hoff und Label Vertigo Berlin das Licht der Welt.

Mit dem eröffnenden „War“ zeigt sich das Kollektiv um Kruspe inhaltlich so dermaßen sozial- und politkritisch, wie noch nie zuvor. Klanglich herrscht hier eine düster-dystopische Atmosphäre vor, die zusätzlich durch orientalisch anmutende Gesänge von einer Prise Exotik angereichert wird. Der durchweg apokalyptische Touch erschließt sich weiterhin durch harte Gitarren, druckvolle Drums und tiefe Shouts im Refrain. Als Duettpartner sollte ursprünglich Serj Tankian von „System Of A Down“ gewonnen werden, der allerdings passen musste, da er nach eigenen Worten nichts hätte tun können, um den Song in seiner Ursprungsversion zu verbessern. Das soll allerdings keinesfalls bedeuten, dass die prominenten Kollaborationen, die seit dem Zweitling ihren Einzug gehalten haben, dieses Mal gänzlich ausbleiben. Im Gegenteil: Schon beim nächsten Track, der schmissigen Single-Veröffentlichung „1234“, steht „Billy Talent“-Sänger Benjamin Kowalewicz hinter dem Mikrofon, um einer fast punkig groovenden Nummer seinen markanten Stempel aufzudrücken, die sofort ganz ohne Kompromisse stimmig nach vorne geht. Der Titeltrack „A Million Degrees“ setzt hingegen einen klaren Kontrast zu den beiden vorherigen Liedern. Nach einleitender Elektronik regieren straighte Riffs im mittleren Tempo, aufstrebende Melodik und ein leidenschaftlich klagender Chorus, der die Affinität zu Eingängigkeit und Pop genauso sehr schlägt, wie auch „Lead You On (feat. Margaux Bossieux)“, welches durch die zarte Stimme der Französin, die bereits auf dem Vorgänger mitsang, ein nahezu perfektes Wechselspiel bietet und die Lyrics beschwingt trägt. In eine ganz ähnliche Kerbe schlägt dann „You Are So Beautiful“, das mitunter Erinnerungen an „U2“ wachruft. Die herzerwärmende, emotionale Power-Ballade mit kalifornischem Flair handelt von Verlust, Selbstwert und alledem, was im Leben wirklich zählt, man aber zu oft erst dann erkennt, wenn es endgültig fehlt. Das folgende „Hide And Seek“ führt abermals markige Gitarren ins Feld, die kernig die kraftvoll tänzelnde Marschrichtung bestimmen, „We Are Together“ konterkariert dann abermals mit minimalistischen Synthies und dezenten Beat-Impulsen, die einer Spieluhr gleichen und in ihrem fragilen Gerüst sphärische Vibes verströmen. Der emotionale Gipfel ist das ausufernde Solo gegen Ende, bis es mit „Let‘s Go (feat. Till Lindemann)“ nochmal ein richtiges Highlight gibt, welches sich so mancher Fan beider Projekte wohl schon immer gewünscht, nie aber für möglich gehalten hätte. Die gefühlvolle Halb-Ballade grenzt sich sowohl instrumental als auch in interpretationstechnischer Hinsicht bewusst weit von der legendären Hauptband „Rammstein“ ab und entlockt insbesondere Lindemann nahbare Facetten, fernab seiner sonstigen Rollen. Ein Lied über innige Freundschaft im Electro-Pop-Gewand, welches in den Strophen in Deutsch und im packenden Chorus in englischer Sprache daherkommt. Sehr schön! Nicht weniger gespannt erwartet wurde mit Sicherheit „I‘m Not Afraid (feat. Cardinal Copia)“, bei dem „Ghost“-Mastermind Tobias Forge seine Audienz gibt. Tatsächlich harmonieren die Stimmen der Akteure hervorragend miteinander, sodass sich eine sehr organische Fusion aus dem Sound beider Bands ergibt, die sich wirklich hören lassen kann. Auch das dreckige „Spitfire“ weiß mit seinem rockenden Groove schnell zu überzeugen und hat ähnliches Potential, wie bereits „Faust“ vom zweiten Langspieler, bevor das eher ruhige und zudem unspektakuläre „Eyes Fade Away“ abschließt. Und so kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass „A Million Degrees“ unterm Strich abermals ein gelungenes und vor allem äußerst rund wirkendes Album ist, welches nun zwar deutlich weniger wagt, als noch seine beiden Vorgänger, dafür aber umso eingängiger daherkommt. Diejenigen, die „Emigrate“ und „Silent So Long“ schätzten, sollten sich auf deutlich poppigere Arrangements, sehr viel gediegenere Nummern und eine durchweg glattgebügelte Produktion einstellen, was im direkten Vergleich etwas Gewöhnung verlangen kann, das vorliegende Material allerdings keinesfalls schlechter oder gar belanglos macht. Es ist gewandter Crossover mit liebäugelnder Radio-Affinität, Airplay-Stoff in gehobener Qualität. Und das ist doch nun wirklich nichts Schlechtes, oder?

Informationen:

https://www.this-is-emigrate.com

https://www.facebook.com/Emigrate/

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