In Extremo - Wolkenschieber (2024)
Genre: Metal / Folk / Alternative
Release: 13.09.2024
Label: Vertigo Berlin (Universal Music)
Spielzeit: 53 Minuten
Pressetext:
Sie haben die Toten geweckt. Wurden verehrt und angespien. Sind als Sünder ohne Zügel mit ihrem rasend Herz in den Sängerkrieg gezogen. Und sie folgten nach dem »Kunstraub« ihrem »Kompass zur Sonne«: Mit ihrem packenden Signature-Sound aus modernem Rock und jahrhundertealten Einflüssen haben In Extremo nicht nur ein eigenes Musikgenre geprägt, sondern sich auch zur wohl bekanntesten und erfolgreichsten Mittelalter-Rockband der Welt entwickelt, die seit fast drei turbulenten Dekaden ein globales Millionenpublikum in ihren Bann zieht.
Nach sieben mit Edelmetall ausgezeichneten Alben (von denen nicht weniger als vier den 1. Platz der deutschen Longplay-Charts enterten) haben sich die fest aufeinander eingeschworenen Spielleute nun wieder zusammengefunden, um dunkle Gedanken in ungewissen Zeiten zu vertreiben und mit »Wolkenschieber« wieder für neuen Mut, Hoffnung und jede Menge guter Laune zu sorgen!
Schon immer stand ein Gedanke bei ihrer Musik im Vordergrund: Der des Feierns, der Geselligkeit und der Gemeinschaft. Ob bei frühen Mittelaltermarkt-Auftritten oder während großer Arena-Shows rund um den Globus – eine Verbundenheit, die In Extremo in dreißig aufregenden Jahren eng mit ihren Fans in Nah und Fern zusammengeschweißt hat und der Robert Michael »Das Letzte Einhorn« Rhein , Sebastian »Van Lange« Lange , Kay »Die Lutter« Lutter, André »Dr. Pymonte« Strugala, Marco »Flex Der Biegsame« Zorzytzky und Florian »Specki T.D.« Speckardt auf ihrem 13. Studioalbum ein Denkmal setzen. Abergläubisch ist das trinkfeste Sextett bekanntlich weniger, wie In Extremo im letzten Jahr mit einem schelmischen Grinsen in Form des Vorab-Tracks »Weckt die Toten« bewiesen haben, mit dem sich die Formation in neu gewonnener Stärke präsentierte. Mit »Wolkenschieber« schicken die Mittelalter-Rocker nun ihr ungeduldig erwartetes Album hinterher.
Der Longplayer präsentiert eine schnell ins Blut gehende Mixtur aus packenden Party- und Trinkliedern, kämpferischen Freiheitssongs und berührenden Balladen, mit der die Band nun das nächste Kapitel in ihrem Schaffen aufschlagen. Das neue Album transportiert das, was In Extremo im Jahr 2024 ausgemacht und wofür sie seit jeher stehen: Für Zusammenhalt, für deutliche Worte und natürlich für jede Menge Energie.
Kritik:
„Weckt die Toten, weckt die Toten
Die Verrückten sind in der Stadt
Weckt die Toten, weckt die Toten
Das Testament ist schon gemacht
Wir tanzen auf den Gräbern, trotzen unserem Untergang, denn zum Sterben ist die Welt zu schön
Weckt die Toten, weckt die Toten
Die Verrückten sind in der Stadt!“
Wir schreiben das Jahr 1874, Berlin: In der Köpenicker Straße mit der Hausnummer 73, die durch die beiden Stadtteile Mitte und Kreuzberg verläuft, gibt sich der Apotheker und Likörfabrikant Georg Schultze seiner großen Leidenschaft hin. Er tüftelt, experimentiert und mischt laut eigener Aussage „geistreiche und gesunde“ Tinkturen für seine treuen Kunden zum genüsslichen Verzehr. Unter jenen Getränken befindet sich auch ein ganz besonders hochprozentiger „Special Liquer“, welchem er deshalb den verheißungsvollen Namen „Wolkenschieber“ verleiht. Dieser wird auf den Flugblättern mit folgendem Werbeversprechen angepriesen: „So hab’ nach sinnesschweren Stunden ich jetzt einen Trank erfunden. Der schiebt die Wolken von der Stirn, stärkt Rücken, Magen und Gehirn. Der schützt vor Regen auf der Reisen, verdaut die allerschwersten Speisen…“. „Das Leben zu Zeiten Otto von Bismarcks hat viele Parallelen zur Gegenwart. Es herrschte eine unglaubliche Armut, große Wohnungsnot und politischer Tumult - etwas, was leider auch heute wieder sehr präsent ist. Schon damals haben sich die Leute in diesen Wirren danach gesehnt, ihre Sorgen zwischendurch für ein paar Momente runterzuschlucken und einfach unbeschwert zu sein.“, erläutert Bassist Kay „Die Lutter“ Lutter. Und tatsächlich macht man sich hier die augenzwinkernde Doppelbödigkeit des Titels, die zudem als übergeordnetes Konzept für das gesamte Album auserkoren worden ist, zu Eigen. „In Extremo“ möchten anno 2024 mit ihren Liedern das triste Grau für einen Moment beiseiteschaffen und stattdessen zum ausgelassenen Feiern und mehr Unbeschwertheit anregen. Traditioneller Untertongesang, also eine Technik, bei der durch speziellen Einsatz des Kehlkopfs Töne unterhalb des regulären Singtons zum Einsatz gebracht werden, leitet über die ersten Sekunden ein und wird bereits kurz darauf von energischen Schlachtrufen sowie dem upliftenden Rhythmus des kernigen Schlagzeugs unterstützt, welches jetzt federführend die Marschrichtung im gediegenen Mid-Tempo vorgibt. Zugegeben, ein wenig erinnert der etwas ungewöhnliche Auftakt an die mongolische Folk-Metal-Band „The Hu“… Mit einer leichten Abwandlung der Zeilen aus obigem Werbeversprechen beginnt Michael Robert „Das letzte Einhorn“ Rhein nun, die erste Strophe in seiner rauen, markanten Stimme zu intonieren, während nervös kreiselnde Electro-Sequenzen im Hintergrund flimmern. „Komm, trink ein Glas vom Wolkenschieber! Harter Tobak, doch nichts ist mir lieber. Vertreibt den Unmut und die Sorgen. Wer kann mir noch ein Glas besorgen?“, heißt es dann erstmalig im arg kurz geratenen, doch nicht minder eingängigen Refrain. Die zweite Strophe und Wiederholung des Refrains gestalten sich dann nach demselben Prinzip. Was dem Song, der just zur zweiten Single auserkoren wurde, jedoch bislang fehlte, sind die typischen Trademarks der Band. Wo ist es denn nun, das Mittelalter? Tatsächlich kommt dieses erst im letzten Drittel in Form eines italienischen Saltarellos aus dem 11. Jahrhundert zum Tragen, der hier von einem behände gespielten Dudelsack und sachter Percussion dargeboten wird, bis schließlich auch Drums, Bass und E-Gitarre wieder einsetzen und den Folk-Anteil damit in den finalen Part mitnehmen, ehe die Nummer nach nur knapp drei Minuten verblüffend abrupt endet. Keine Frage, „Wolkenschieber“ ist durch genannte Elemente in vertretbarem Maße unkonventionell und angenehm erfrischend, aber dennoch typisch „In Extremo“. Als Eröffnung und insbesondere Titeltrack allerdings gefühlt mindestens eine halbe Minute zu kurz geraten, wodurch kein größerer Spannungsaufbau im Arrangement möglich ist. Zudem fehlt es dem Song seltsam an der gewissen Power und an Biss, wodurch er merkwürdig kraft- und damit zahnloser wirkt, als vermutlich gedacht war. Die Trinklied-Thematik ist mittlerweile ausgezehrt und auch der Fakt, dass wichtige Signature-Elemente, die dem Stück seinen gewissen Drive verleihen, erst sehr spät, wenn nicht sogar zu spät, zum Einsatz kommen, hinterlässt am Ende leider einen schalen und unbefriedigenden Nachgeschmack, der für Schultzes Kunden nur hoffen lässt, dass jener Likör seinerzeit mehr gehalten als versprochen hat.
Ganz anders kommt da schon von Anfang an „Weckt Die Toten“ daher, welches viele Fans mit Sicherheit schon aus dem Sommer vergangenen Jahres kennen. Die erste Single-Auskopplung feierte bereits auf der Burgen-Tournee 2023 ihre Live-Premiere und erfreute sich dort großer Beliebtheit, ehe die Fans plötzlich ein echter Vorfreude-Dämpfer erreichte und verkündet wurde, dass das dazugehörige Studioalbum sich für mehr Feinschliff leider aufs Folgejahr verschieben würde. Nichtsdestotrotz hat die energiegeladene Up-Tempo-Nummer unterdessen nichts von ihrer anfänglichen Faszination eingebüßt und hier in der deklarierten 2024er Version zudem sogar noch ein kleines Upgrade erhalten… Getreu den Textzeilen der zweiten Strophe „Wir haben alles, was wir brauchen: Trommel, Sack, Schalmei. Wenn das nicht genug ist, hilft auch noch Geschrei!“ fahren die Sechs nahezu das volle Repertoire auf und bieten (fast) alles, was das Fan-Herz begehrt. So rotieren gleich zu Beginn die signifikanten Marktsackpfeifen auf hypnotisch-rasante Weise, woraufhin dann das schwer drückende Schlagzeug sowie harte Gitarren mit voller Kraft straight nach vorne peitschen und somit einen feurig folkenden Reigen entfachen. Die kurzweiligen Strophen, in denen Henry M. Rauhbein, seines Zeichens Sänger der sympathischen Band „Rauhbein“, welche zuletzt einige InEx-Shows als Support begleitete und damit sicher viele Neu-Hörer gewinnen konnte, als Gastsänger auftritt, werden musikalisch hauptsächlich von kernigen Riffs und modernen, rhythmischen Breaks ausgefüllt. Dabei ergänzen sich die Stimmfarben von ihm und Rhein ziemlich gut, sodass eine schöne Harmonie entsteht, die den Flow nicht unterbricht, wenngleich die Nummer eigentlich nicht zwingend einen Feature-Part benötigt hätte, wie das Original eindrucksvoll zeigt. In der von der zarten Harfe wunderbar begleiteten Bridge, in welcher es passenderweise „Wir atmen ein, wir atmen aus… Bevor wir uns erheben!“ heißt, wird uns eine kleine Atempause vor dem enorm packenden Refrain vergönnt und auch ein ganz fantastisches Dudelsack-Solo hat die Band später noch in petto. „In Extremo“ vertreiben gekonnt den Schwermut des tristen Alltags, appellieren an das große Gemeinschaftsgefühl und wecken die Lebensgeister auf! Der durchweg treibende Song animiert mit all seiner guten Laune bereits nach kurzer Zeit zum lauten Mitsingen und ist definitiv für die Konzerte geschrieben worden. Lyrisch punktet man mit sehr charmanten Selbstreferenzen, die den nachgeschobenen Quasi-Titeltrack des gleichnamigen Albums aus dem Jahr 1998 zu einer starken Spielmannshymne zum baldig dreißigjährigen Band-Jubiläum küren: „Gläser splittern, Feinde zittern, tausend Kehlen singen. Die Guten sind ab jetzt am Zug, die Feigen trifft der Spielmannsfluch!“…
„Katzengold“, auch Pyrit, Schwefelkies oder Narrengold genannt, ist ein nur wenig seltenes Mineral. Ein Klumpen aus Schwefel und Eisen und im Vergleich zum wohl bekanntesten Edelmetall nichts wert, wenn man nicht gerade Geologe ist. „Dumm-, Dumm-, Dumm-, Dumm-, Dumm-, Dumm-, Dummheit!“, heißt es nun gleich einem gebetsmühlenartigen Mantra mehrmals und direkt darauf brechen plötzlich bretthart rockende Metal-Riffs herein. Zusammen mit donnernden Schlagzeug samt heftigen Doublebass-Attacken und dem tiefen Bass fegt die Nummer ab ihrem jähen Start nur so voran und jagt das Tempo beständig nach oben. Parallel zum aggressiven Arrangement keift Rhein die Zeilen hörbar wütend, speit unablässig Gift und Galle. „Ein großes Maul zur rechten Zeit, du bist du Großem auserkorn‘. Die Knarre liegt unterm‘ Bett bereit, die Welt hat sich gegen die verschworn‘…“, giftet er zynisch gegen alle jene, die die Massen gewissenlos aufhetzen, spalten, Wahrheit und Tatsachen zu eigenen Gunsten verdrehen, sodass sich das Stück thematisch nicht von ungefäh in die Riege zwischen „Quid Pro Quo“ und „Lügenpack“ einreiht, welche den jeweils aktuellen Zeitgeist schon kritisch auffassten. „Eigentlich hatten wir beschlossen, uns in den Songs nie politisch zu äußern. Seit „Quid Pro Quo“ hat sich dies geändert. Wenn man sich heute die explosive Stimmung in der Welt anschaut, kann man nur den Kopf darüber schütteln, wie gewisse Dinge in einem Land mit unserer dunklen Vergangenheit schon wieder passieren können und sich die Geschichte direkt vor unseren Augen wiederholt. Statt aus den Fehlern zu lernen, begehen wir sie zum zweiten Mal.“, so Lutter dazu. „Dreh dich nicht um, die Dummheit die geht um. Schweine grunzen, Hunde kläffen. Der Blitz soll dich beim Scheißen treffen!“. Rein instrumental gesehen gibt es gegenüber den soeben genannten Songs der beiden Vorgängeralben jedoch einen einschneidenden Unterschied, der, ähnlich dem einleitenden „Wolkenschieber“, eine fragwürdige Designentscheidung mit sich bringt: Bis auf den partiellen Einsatz des Klangbaums nach dem Chorus ist der Mittelalter-Anteil verschwindend gering. Stattdessen bietet sich hier eine lupenrein verpunkte Deutsch-Rock-Nummer mit dezenten NDH-Anleihen auf, die teils frappierend an das Projekt „Universum25“ erinnert. Das ist ganz besonders deshalb so schade, weil hier eigentlich eine enorm eingängige und packende Melodie für den Dudelsack vorliegt, welche den sehr soliden Song mitsamt seiner aussagekräftigen Thematik gegen Ende gehörig aufwertet und ihm so das gewisse Etwas verleiht, das bislang fehlte. Denn erst auf das knackige und von hellen Synthie-Chören untermalte Gitarren-Intermezzo und eine kurze, pochende Electro-Sequenz folgt endlich die ersehnte Symbiose mit den einstigen Wurzeln in Form eines satten Dudelsack-Solos, dessen mitreißende Melodie sich leider nur innerhalb der letzten halben Minute zeigt, damit einzig noch den finalen Refrain sowie das brodelnde Outro unterstützt und zeigt, wie der Song hätte sein können. Ein wenig schade, dass man dieses Potential hat liegen lassen…
Die dritte Single namens „Ólafur“ basiert auf der isländischen Skalden-Dichtung „Ólafur Liljurós“ aus dem 8. Jahrhundert, deren Melodie im Skandinavien zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus religiösen Gründen verboten wurde. Dabei handelt die überlieferte Geschichte vom titelgebenden Herrn Olaf, welcher seine Mutter zu besuchen gedachte, sich während seines nächtlichen Ritts auf dem Weg zu ihr jedoch verirrte. An den Klippen fand er plötzlich eine seltsame Behausung, vor der ihm eine Elfe begegnete, die versuchte, ihn in ihr Reich zu locken. Als er sich instinktiv dagegen entschied, zu bleiben, wurde er hinterrücks von ihr mit einem Schwert erstochen… André Strugala, vielen sicher auch besser als „Dr. Pymonte“ bekannt, stieß bei seiner Recherche zum neuen Album in den Archiven auf das entsprechende Liedgut, mit dem man die Fans nun in die Welt der nordischen Mythologie entführt. Seit jeher ist es eine ganz besondere Spezialität des Sextetts, traditionelle Folklore für das Hier und Heute aufzubereiten und in sein unnachahmliches Gewand zu kleiden, um so von Legenden aus längst vergangener Zeit zu erzählen. Die musikalische Umsetzung gelingt natürlich am besten, unter authentischer Verwendung des historischen Instrumentariums jener Überlieferung: Gleich zu Beginn setzt sich die hauchfein perlende Melodie der sanft gezupften Harfe auf einen sphärisch schwelenden Unterbau aus atmosphärisch akzentuierenden Synthies und einer elegisch-nebulösen Frauenstimme, was binnen nur weniger Sekunden eine ungemein mystische, dunkle Stimmung zaubert. „Ólafur leit sitt hjartablóð…“, beginnt Rhein jetzt mit kehliger Stimme zu singen. „…Villir hann, stillir hann!“, antworten die übrigen Mitglieder als kleiner Chor nach dem typischen Call-and-Response-Prinzip darauf, während aus dem Hintergrund heraus die kräftige Percussion der Trommeln donnert, ein Trumscheit knarzend nachhallt und tiefe Hörner bedrohlich erschallen. Die baldige Wiederholung der Strophe wird zusätzlich von verspielten Flöten gerahmt, bis die Instrumente im Mittel-Part ganz plötzlich still verharren und einzig noch Gesang zu vernehmen ist, welcher das Stück aber nicht zu beenden gedenkt, sondern nur hörbar Schwung holt, denn das war erst der Anfang! Nach gut anderthalb Minuten erfolgt nämlich die herbeigesehnte, explosive Eruption: Die alles dominierende Übermacht der Dudelsäcke, die nun satt und voll ertönen, fusioniert durch die Hinzunahme von drückendem Schlagzeug und schreddernder E-Gitarre extrem harmonisch mit der Moderne, wie man es von „In Extremo“ kennt und liebt. Eine hammerharte Folk-Breitwand walzt in all ihrer mächtigen Hymnenhaftigkeit jetzt einfach alles nieder, grelle Schellen erklingen, es folkt und rockt! Unter dieser Prämisse wird der Text abermals wiederholt und gipfelt schließlich in seinem (gefühlt) viel zu frühen Finale. Die eigentlichen neun Strophen des Originals wurden bei der in-ex‘schen Interpretation nämlich einzig auf die siebte beschränkt und damit stark auf die Essenz gekürzt… Vielleicht ein wenig zu sehr, wie die etwas zu knapp bemessene Spieldauer zeigt, die den grandiosen Song ganz haarscharf am Status eines neuen Diskographie-Epos vorbeischrammen lässt. Nichtsdestotrotz ist den glorreichen Sechs hier wieder ein ausgesprochenes Highlight ganz im beliebten Oldschool-Stil der legendären Frühwerke gelungen, welches, wie zuletzt etwa schon „Salva Nos“, „Biersegen“, „Dacw 'Nghariad“ und natürlich der junge Klassiker „Pikse Palve“ von den beiden Vorgängern, bei sehr vielen Alt-Fans mit Sicherheit für große Freude sorgen dürfte - Wahnsinnig gut, gerne mehr davon!
Wer dem Konzert der diesjährigen „Carpe Noctem“-Burgen-Tournee in der Festungsruine Singen oder dem Wacken Open Air persönlich oder via Live-Stream beigewohnt hat, gehört zu den wenigen Glücklichen, die den folgenden Song bereits hören durften. Für alle anderen ist „Unser Lied“ brandneu und dieses hat tatsächlich die ein oder andere Überraschung zu bieten. Mit Björn Both, Sänger der norddeutschen Band „Santiano“, hat man hier einen weiteren Feature-Gast an Bord, der bei dem ein oder anderen Fan bestimmt für besorgtes Stirnrunzeln sorgen dürfte. Nicht ganz zu unrecht, förderte so manch überraschende Kooperation von Szene-Bands mit Stars der Pop- und Schlager-Welt in der Vergangenheit nicht immer nur Gutes zutage. Ja, die geradezu traumatische Angst vor dem Mainstream und davor, die eigene Lieblingskünstler an den Kommerz zu verlieren, ist in den dunkleren, ach so offenen Gefilden der Musik noch immer sehr stark verankert, doch wer „In Extremo“ kennt, wird darum wissen, dass ihnen schnödes Schubladendenken und einengende Genre-Grenzen schon immer fern lagen. Zudem verbindet „Santiano“ und „In Extremo“ mittlerweile eine längere Freundschaft: So trat Michael Robert Rhein beispielsweise schon im Jahr 2019 für die „MTV Unplugged“-Ausgabe der fünf Schleswig-Holsteiner für den Song „Liekedeeler“ als Duettpartner in Erscheinung und auch sonst pflegt man scheinbar ein sehr kollegiales Verhältnis zueinander. Nichtsdestotrotz: Wird jetzt etwa zu fröhlichem Shanty beherzt geschunkelt oder ruft gar schon bald der Fernsehgarten? Mitnichten! Das stellen allein die verzerrt sägenden Gitarren direkt mehr als klar, welche sich nur wenig später in ein satt rockendes Riff-Getöse ergeben, das sich in gar halsbrecherischem Tempo seinen Weg aus den Boxen sucht. „Wir kamen aus der dunklen Zeit, wir gingen kilometerweit… Traten selbst die dicksten Mauern ein! Wenn Nebel aus dem Wasser steigt, sich der Tag dem Ende neigt… Niemals werden wir alleine sein!“, singt Rhein in den rhythmisch energiegeladenen Strophen, in denen hart bollerndes Saitenwerk mit den mystisch zirkulierenden Klängen des Hackbretts konkurriert. Das zu seligen „Sängerkrieg“-Zeiten ausgerufene „In Extremo“-Motto, nämlich der unbändige Wille, niemals aufzugeben und in die Knie zu gehen, konstatiert Rhein alsbald in der auf Latein gehaltenen Bridge und schon geht es zum kurzen Refrain über: „Wir laufen im Regen, dem Horizont entgegen. Keine Flut, die uns versenkt. Wir kämpfen uns durch Wüstensand, doch uns hält keiner auf und wir singen unser Lied…“, heißt es da gewohnt selbstbewusst und kämpferisch, während die Gitarren weiterhin kernig geradeaus rocken. Wer nun wissen will, wie dieses denn geht, erhält auch sogleich Aufschluss darüber, wenn die Dudelsack-Formation anschließend ihre hymnische Weise zum Besten gibt und dabei von eingängigen „Ohoho“-Chorälen begleitet wird. Zugegeben, ein etwas zu offensichtlich kalkulierter Zusatz, den es hier jedoch nicht unbedingt gebraucht hätte, steht die verdammt gelungene Folk-Melodie doch eigentlich sehr gut für sich selbst! Natürlich soll und wird dieser Part auf zukünftigen Live-Konzerten bestimmt zum launigen Mitgrölen anregen, doch ist es eigentlich immer viel schöner, wenn sich solch künftige Traditionen während der Gigs durch das Publikum selbst entwickeln, anstelle im Voraus fest eingeplant zu sein. So entsteht leider schnell der Beigeschmack einer konstruierten Hymne nach „Die Toten Hosen“-Art, doch ist dieser kleine Kritikpunkt vor dem Hintergrund der sonstigen Stärke des übrigen Stücks glücklicherweise nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Both bestreitet die zweite Strophe allein. Sein leicht angerautes, warmes Timbre fügt sich stimmig ein, passt gut und glaubhaft zur Nummer. Vor dem letzten Refrain gibt es dann noch einen sehr schönen, ausgedehnten Solo-Part irgendwo zwischen knurrenden Gitarren und einem voller Fernweh wehklagenden Dudelsack - Top! Musikalisch hält die Nummer nämlich eine überraschend knackige Härte parat und macht auch lyrisch ziemlich viel Laune, wenngleich man sich dabei der typischen Klischee-Motive aus Seefahrt und Co. bedient. Dennoch gelingt der Band ein toller Mix zwischen mittelalterlichen Einflüssen und maritimer Symbolik, wie es ihn unter anderem schon auf „Sünder Ohne Zügel“, „Sieben“ und „Mein Rasend Herz“ gab, sodass sich bald ein guter Drive mit viel Power entwickelt, der mächtig zieht und zugleich die Identität der Sechs sicher wahrt.
Das jüngst veröffentlichte „Feine Seele“ nimmt anschließend den Platz der Ballade des aktuellen Albums ein und ist thematisch einmal mehr ein ungemein schwer zu verdauender Brocken, widmet man sich hier, wie schon zuletzt bei „Schenk Nochmal Ein“, abermals der Thematik des Abschieds von einem geliebten Menschen. Zu den zerbrechlichen und wunderschönen Klängen der Harfe gesellt sich alsbald die trauernde Melodie der einfühlsam gespielten Nyckelharpa. Jenes besondere Streichinstrument, welches im Band-Kosmos sonst immer vom im Jahr 2022 so überraschend wie gleichermaßen tragisch verstorbenen Boris „Yellow Pfeiffer“ Pfeiffer gespielt wurde, entfaltet jetzt durch Oliver „SaTyr“ Pade, Kopf der Münchner Pagan-Folker „Faun“, seinen rührenden Zauber. Anders, als zuletzt bei „Schwarzer Strand“ auf „Finsterwacht“, dem neuen Studioalbum der Genre-Kollegen von „Saltatio Mortis“, tritt Pade allerdings ohne seine Bandkolleginnen in Erscheinung und beteiligt sich auch gesanglich nicht, sondern beteiligt sich als rein musikalischer Gast. „Schlaf nun gut, du feine Seele. Ich streichle sanft dein schönes Haar. Verzeihe mir die harten Worte, ich kette sie an schweren Stein. Verbanne sie an ferne Orte, lass uns bitte wachsam sein.“, singt Rhein unter behutsamer Percussion, dass es einem bald Schauer über den Rücken jagt. Mit der fragilen Introvertiertheit der ruhigen Strophen, die hauptsächlich auf den Text fokussieren lassen, wird im darauffolgenden Chorus leicht gebrochen, wenn Drums und E-Gitarre konterkarierend hinzukommen und sich der puren Emotion und Trauer gelöst Bahn brechen lassen. Dieser stilistische Umbruch kommt gefühlt ein wenig zu plötzlich und wäre eventuell als Klimax-Moment im finalen Refrain noch wirkungsvoller aufgehoben gewesen, verfehlt seine Wirkung aber keineswegs. „Schlaf nun gut, du feine Seele. Ich streichle sanft dein schönes Haar. Wenn ich deine Worte schäle, lausch' ich, wie es einmal war. Wir hattеn Feuer, warmen Friеden. Der Himmel war uns sehr egal!“, heißt es da, während jene Zeilen dual von einem hellen Kinderchor begleitet werden. Auf die zweite Strophe folgt zunächst ein wunderschönes Zwischenspiel der Uillean Pipes, nach dem Refrain hingegen ein ergreifendes Solo der Nyckelharpa und Gitarre, das zu Tränen rühren kann und den ergreifenden Abschluss markiert… Eine bissige E-Gitarre lässt anschließend den tiefroten „Blutmond“ am Himmel aufgehen. Hart und heavy rockt die metallische Fraktion voran, das angezogene Tempo rangiert dabei sicher zwischen Mid- und Up-Gefilden. Die finstere Nummer erinnert nicht nur durch ihren verwandten Titel stark an den Klassiker „Vollmond“, sondern lässt insbesondere auch in lyrischer Hinsicht starke Bezüge zu dessen Musik-Video samt Vampir-Thematik zu: „Leere Worte auf bleichem Papier, die fegt der Wind hinüber zu dir. Du spürst die Krallen in deinem Genick und gibst dich geschlagen Stück für Stück!“, lauten die bedrohlichen Zeilen der ersten Strophe oder auch „Schwere Steine auf deiner Brust…Liebe ist Wahn und Wahnsinn ist Verlust!“ in der unheimlichen und von gellend verzerrten Echo-Schreien sowie dominanten Dudelsäcken durchsetzten Bridge. „Wenn der Blutmond scheint, wenn der Himmel weint… Wenn dein Herz zerbricht, weißt du die Antwort nicht. Wenn der Blutmond scheint, wenn der Himmel weint… Da schließt sich eine Tür, steht jemand hinter dir!“, wird im düster rockenden Refrain gesungen, an welchen sich sodann abermals die hypnotischen Dudelsäcke anschließen, die später noch zusammen mit treibenden Percussion-Elementen im orientalischen Stil einen größeren Auftritt haben werden - Genial! Nervös flimmernde Saiten und synthetisches Horn lassen angespannte Stimmung aufbranden, welche sich jedoch schon wenig später in einer melancholisch-schwelgerischen Dudelsack-Melodie mit absolutem Ohrwurm-Charakter wieder auflöst.
Für „Des Wahnsinns Fette Beute“ konnte ein weiterer Gast-Sänger gewonnen werden, nämlich niemand Geringeres als NDW-Koryphäe Joachim Witt! Obgleich der bekannte Hanseat mit der unverwechselbaren Stimme seinen großen Auftritt erst und einzig in der zweiten Strophe hat, welche er auf seine unnachahmlich kauzige Art eher sprechend denn singend intoniert, ist durchaus denkbar, dass Witt auch musikalisch mitgemischt hat. Für die im mittleren Tempo angesiedelten, schleppenden Strophen wurde sich ungewöhnlicherweise für einen rein orchestralen Unterbau aus marschierendem Rhythmus und epochalen Streichern entschieden, welche somit wie ein schwerer Walzer anmuten und genauso gut der witt‘schen „Rübezahl“-Trilogie entstammen könnten. „Der Satan sitzt mir im Genick, lenkt meinen Weg mit viel Geschick. Dein Bett, nun schläfst du fein. Schleich ich mich in dein Zimmer rein…“, verkündet das lyrische Ich in Form des titelgebenden Wahnsinns beinahe schadenfroh und bekräftigt dann im Chorus „Ich bin des Wahnsinns fette Beute, geh‘ mit dem Kopf durch jede Wand. Es gibt kein gestern, gibt kein heute. Ich fang den Wind mit einer Hand!“. Musikalisch gelingt damit eine stimmige Symbiose aus Mittelalter-Rock und majestätischem Bombast, die zunächst zwar durchaus ungewöhnlich klingt, aber zum Glück nur wenig überladen ist. Ob der erneute „Ohoho“-Chor im letzten Part wirklich notwendig war oder dem Arrangement am Ende eine zu sehr gewollte Facette zu viel auflädt, sei mal dahingestellt. Trotzdem punktet die groß angelegte Hymne gegen den Irrsinn unserer Welt mit bildhaften Lyrcis, ihrem tollen Aufbau und nicht zuletzt einer enorm einprägsamen Melodie. Angespannt flackernder Electro und die filigranen Töne des Hackbretts leiten danach „Geschenkt Ist Geschenkt“ ein, in dessen Strophen sofort ein zügig treibender Rhythmus greift: „Du schenkst mir deine Zeit, du schenkst mir auch dein Geld. Wir können damit leben, so wie es uns gefällt. Doch plötzlich fällt der Groschen und im letzten Augenblick änderst du noch deine Meinung und willst all dein Geld zurück!“, heißt es und die Gitarren röhren behände groovend. Aufpeitschende Dudelsäcke und in regelmäßigen Abständen martialisch geshoutete „Huh!“-Rufe füllen den catchy Refrain aus, in welchem auf typische „In Extremo“-Art allerhand thematisch passende, plakative Kalenderweisheiten der Marke „Wiederholen ist gestohlen!“ oder „Wer klaut, wird gehängt!“ aneinandergereiht werden. Das kurzweilige Rezitieren jener Lektionen auf gewohnt augenzwinkernde und herrlich sarkastische Weise erfolgt zwar durchaus ein wenig nach dem bewährten Prinzip „Reim dich oder ich fress dich!“, passt hier allerdings gut zur eher kompakt gehaltenen Grundausrichtung und verfehlt seine Wirkung im Kontext dieses knackigen Up-Tempo-Rocker nicht. Im Gegenteil: Die wohl balancierte Kreuzung zwischen modernem Rock samt punkiger Note, elektronischer Schlagseite, kleineren Effekten und der hymnisch-verspielten Folk-Marke erinnert zuweilen an die „Sterneneisen“-Ära und macht damit ordentlich Laune, regt schnell zum Singen und Tanzen an.
Eine einsame Gitarre leitet den nächsten Song beruhigt ein und lässt damit nicht vermuten, was in nur wenigen Sekunden folgen soll, denn schon wenig später prügeln die satten Drums zu reißenden Gitarrenwänden und hymnischen Dudelsäcken dermaßen energetisch knüppelnd drauf los, sodass es eine wahre Freude ist. Die mitreißende Melodie von „Aus Leben Gemacht“ schießt dabei sofort ins Gehör und will gar nicht mehr fort! „Nicht immer richtig abgebogen…“, beginnt Rhein, doch wird seine Textzeile alsbald mit den Worten „…doch wir sind im Herzen rein!“ von jemand anderem vollendet. Für dieses Stück wurden mit Joey und Jimmy Kelly von der „Kelly Family“ nämlich abermals zwei hochkarätige Gäste zum Feature geladen, die aus dem Freundeskreis der Band stammen, kreuzten sich die Wege der Berliner und der Kellys in den vergangenen Jahrzehnten doch bereits ein ums andere Mal. „Wir sind nicht nur ewig mit den Kellys befreundet. Auch in unseren jeweiligen Band-Biographien gibt es viele Parallelen. Beide Bands haben ihre Ursprünge auf der Straße und wurden in ihren Anfangstagen oft belächelt. Trotzdem - und das darf in aller Bescheidenheit gesagt werden - haben sich sowohl die Kellys als auch „In Extremo“ zu Legenden entwickelt. Wir haben damals ihren Super-Hit „Why Why Why“ gecovert. Nun war es Zeit, unsere Freundschaft endlich öffentlich zu besiegeln.“, erklärt Sebastian „Van Lange“ Lange. Die pumpenden Strophen profitieren enorm von der sehr dynamische Rhythmik mit ihrer pluckernden Elektronik, Schellen und schönen Harfen-Zwischenspielen, den Gesang teilen sich die Künstler dabei nach oben genanntem Prinzip auf, was zwar recht gut funktioniert, an manchen Stellen aber doch etwas wirr anmutet, da die jeweiligen Stimmfarben sich schon sehr voneinander abheben. Dennoch entsteht bei der gemeinsamen Reflexion der eigenen Karrieren, welche starke Parallelen zueinander aufweisen, allein aufgrund der hohen Authentizität eine wirklich schöne Harmonie durch echte Verbundenheit, die für den Hörer jederzeit spürbar ist, wenn Rhein und die Kellys diesen hier durch ihre Höhen und Tiefen führen. „Wir sind aus Leben gemacht und im Feuer entfacht. Lass uns rennen, zusammen rennen! Immer aufrecht stehen, nur noch vorwärts gehen. Wir halten zusammen, für immer zusammen!“, singt man dann zusammen im Refrain, der wiederum von der anfänglichen Melodie äußerst kraftvoll fortgetragen wird und so eine wahre Zeitreise-Hymne auf das Spielmannsdasein schmiedet, die Erfahrung, Tradition, Freundschaft und Verbundenheit ebenso sehr preist, wie auch den starken Willen, im Leben niemals aufzugeben und sich allen Widrigkeiten mutig entgegenzustellen…
Stakkato-Schlagzeug. Schnelle Rhythmen. Energiegeladene Gitarren. Eine powernde Dudelsack-Front. Und dazwischen wieder eifrig animierende „Ohoho“-Chöre. Nicht nur deswegen, sondern auch hinsichtlich der speziellen Spielart der Folk-Fraktion, erinnert die Nummer frappierend an die letzten zwei, drei Alben der Genre-Kollegen von „Saltatio Mortis“. Dazu trägt auch bei, dass „Komm, Lass Die Welt Sich Weiterdrehen“ sich lyrisch weniger klassischer Motive, sondern aktueller eher Thematik und Sprache bedient. „Mit alten Liedern kommst du übers Jahr. Du singst mit Inbrunst, wie schön es früher war. Zu deinen Freunden ist dir der Weg zu weit. Der Tag ist endlich und du hast niemals Zeit!“, singt Rhein und stimmt mit den prägnanten, doch wirksamen Zeilen äußerst nachdenklich, wenn einem allmählich bewusst wird, wie rasend schnell die Zeit im Hamsterrad der alltäglichen Tristesse doch verfliegt. Fokus auf die wirklich wichtigen Dinge. Nie wieder Monotonie. Einfach aussteigen. Doch wie!? Fragen, die einen ab einem gewissen Alter und gerade in diesen Zeiten beinahe ständig aufwühlen. „Doch am Ende des Tunnels da brennt noch ein Licht… Siehst du es nicht?“, fragt er in der kurzen Bridge und spendet damit einen kleinen Funken Hoffnung, der verrät, dass es für Veränderung niemals zu spät ist… Außer, wenn es irgendwann wirklich zu spät ist. Und dann greift die mitreißende Melodie des Beginns wieder ein: „Komm, lass die Welt sich einfach weiterdrehen! Ich steig‘ hier aus und bleibe draußen stehen. Komm, lass die Welt sich einfach weiterdrehen! Zu kleine Schuhe… Zu kleine Schuhe, die stören nur beim Gehen!“. Anschließend laden Drehleier und Harfe in Form eines Solos zum kurzen Innehalten und Verschnaufen ein. Im Hintergrund brodelt es und schon bald stimmen auch die Dudelsäcke wieder mit ein, um diesen grundsoliden, optimistisch folkenden Up-Tempo-Track mit der anfänglichen Kraft bis zum Ende zu schieben. „Doch am Ende des Tunnels da brennt noch ein Licht. Komm, öffne deine Augen, sonst siehst du es nicht!“. Zum großen Finale mit „Terra Mater“ betören eingangs die wunderbar filigranen Klänge von Schalmei und Cister, welche, von der metallischen Schlagseite bislang gänzlich unberührt, wärmende Atmosphäre versprühen und damit zurückhaltend-folkloristisch die erste Strophe grundieren. „Ich fliege endlos über Weiten, gieß’ über euch das Sonnenlicht. Ich bin Musik und teile die Zeiten, aus denen ein neues Entstehen bricht…“, werden die ersten Zeilen vom zarten Flötenspiel umarmt. Der epochale Refrain kommt wiederum in lateinischer Sprache zu marschierender Percussion und aufstrebenden Streichern daher, welche daraufhin auch in die zweite Strophe übergehen, um schließlich mit geballter Macht von Drums und E-Gitarre in der baldigen Wiederholung des Refrains zu implodieren und wie Phönix aus der Asche zum Himmel empor zu steigen. Kurz bevor der umherwirbelnde Sog jedoch seinen vorzeitigen Höhepunkt erreicht, erfolgt etwa ab der Hälfte plötzlich ein Einschnitt und lässt für einen kleinen Sekundenbruchteil gefühlt Zeit und Raum stillstehen. Drehleier und Sackpfeife erklingen, während Rhein scheinbar endlos weit entfernt wieder und wieder die lateinischen Zeilen mantraartig wiederholt, bis sich seine Stimme mit deutschem Text parallel dazu in den Vordergrund schiebt und darüber legt. Es hat beinahe etwas Rituelles, etwas Sakrales an sich: „Ich bin das Schicksal. Ich eine die Räume. Ich bin die Hoffnung für euch aus der Ferne. Ich bin das Leben durch eure Träume…“, spricht er eindringlich. Auf einen nachhallenden Glockenschlag bieten die klagenden Uillean Pipes dann ein unglaublich emotionales Solo, während sich dazu knisternde Electro-Fragmente, Chöre sowie das gesamte Streicher-Ensemble aufbäumen und mit aller Macht die Dämme brechen lassen, was schlussendlich in einem metallisch donnernden Gipfel kulminiert, ehe einer sanfte Flöte die letzten Sekunden zum ruhigen Ausklang bringt - Wow! Inszenatorisch leisten „In Extremo“ hier ganze Arbeit und wandeln damit auf den Pfaden eines „Wintermärchen“. Der langsame Aufbau trägt das Stück von seinen balladesken Zügen hinfort und führt es dann spannungsgeladen über den großartig arrangierten Klimax hinweg zu einer majestätische Hymne auf Mutter Natur von gar cineastischem Ausmaß. Ein sehr gelungener Schlussakzent, der in Gedächtnis und Gehör noch lange nachhallt.
Tracklist:
01. Wolkenschieber
02. Weckt Die Toten (feat. Henry M. Rauhbein)
03. Katzengold
04. Ólafur
05. Unser Lied (feat. Björn Both)
06. Feine Seele (feat. Oliver „SaTyr“ Pade)
07. Blutmond
08. Des Wahnsinns Fette Beute (feat. Joachim Witt)
09. Geschenkt Ist Geschenkt
10. Aus Leben Gemacht (feat. Joey & Jimmy Kelly)
11. Komm, Lass Die Welt Sich Weiterdrehen
12. Terra Mater
Fazit:
Vier Jahre nach der Veröffentlichung von „Kompass Zur Sonne“ und damit einige Zeit später als seitens des umtriebigen Vagabunden-Sextetts ursprünglich geplant, erscheint mit „Wolkenschieber“ jetzt endlich der voller Spannung erwartete Nachfolger. Dabei scheinen unfreiwillige Verschiebungen mittlerweile zur kleinen Tradition geworden zu sein: Wurde der direkte Vorgänger noch aufgrund den Widrigkeiten der damalig vorherrschenden Pandemie samt mehrmaliger Verlegung der zugehörigen Tournee zwangsweise nach hinten verlegt, so entschied man sich im Laufe des Jahres 2023 hingegen aus freien Stücken dazu, dem entstehenden Werk mehr Zeit für den notwendigen Feinschliff zu geben… Ironischerweise musste der ursprünglich für den 06.09.2024 vorgesehene Release aufgrund von Schwierigkeiten im Presswerk allerdings nochmals geschoben werden. Immerhin nur um eine einzige Woche - Glück gehabt! Dabei waren insbesondere nach den dazwischenliegenden, kräftezehrenden Jahren, welche sowohl für Fans als auch Band von Distanz und steter Unsicherheit geprägt waren, Prämisse und Leitmotiv für den kommenden Langspieler klar: Dieses soll, genau wie der gleichnamige Likör aus dem achtzehnten Jahrhundert, all die düsteren Gedanken und belastenden Sorgen dieser turbulenten Zeit für einen Moment vertreiben und stattdessen wieder für neuen Mut, Hoffnung und vor allem jede Menge gute Laune beim Hörer sorgen. „In Extremo“ stehen anno 2024 laut eigener Aussage für „Zusammenhalt, deutliche Worte und natürlich jede Menge Energie“. Eine durchaus interessante Beschreibung, die zwar irgendwie alles oder auch nichts bedeuten kann, zum vorliegenden Material jedoch nicht besser könnte! Wie genau das neue Album in seiner Gesamtheit aber so klingen würde, blieb bis zuletzt mehr als nur spannend, hätten die vorab ausgewählt Singles doch nicht unterschiedlicher sein können… Kurz vorab: „Des einen Freud ist des anderen Leid“, wie man so schön sagt. Will heißen, wenngleich sich auch manch ein Fan im Vorfeld genau das gewünscht hatte, ist das aktuelle Album keine durchweg fröhlich folkende Party mit einem bunten Sammelsurium an stumpfen Trinkliedern zum munteren Mitgrölen geworden… Zum Glück! Bitte nicht falsch verstehen, Songs dieser Couleur gehören fest zum Genre dazu und machen vor allem live viel Spaß, doch ein reines „Sternhagelvoll 2.0“ in der Länge eines gesamten Albums kann doch nicht alles sein, oder? Was dafür aber schon während des ersten Durchgangs umso mehr sofort erfreulich auffällt: „Wolkenschieber“ ist quasi durchgehend von einer gewissen Grund-Härte geprägt, die in jedem einzelnen Lied präsent ist. Das bedeutet nun nicht, dass einem zwölf schnelle Up-Tempo-Nummern um die Ohren knallen, wohl aber, dass die metallische Rock-Fraktion dieses Mal noch stärker und vehementer im Vordergrund steht, was sogar für die Ballade gilt. Tatsächlich bewegt sich ein Großteil der Songs nämlich eher im mittleren Segment, dennoch sorgt jene leicht verschobene Gewichtung in Richtung der Lead-Melodien für eine gute Spur anhaltender Heavyness. Wer glaubt, dass deswegen die ikonische Mittelalter-Komponente nicht mehr so sehr zum Tragen kommen, darf aber beruhigt aufatmen, denn Stücke wie „Weckt Die Toten“, „Blutmond“, „Geschenkt Ist Geschenkt“ oder „Komm, Lass Die Welt Sich Weiterdrehen“ atmen ganz eindeutig den klassischen Spirit von „In Extremo“. Auch wurden mit der Vertonung des isländischen Traditionals „Ólafur“ und dem finalen Epos „Terra Mater“ zudem wieder zwei Songs in die Tracklist integriert, die sich nahezu vollständig auf die Tugenden der ersten Alben berufen. Beliebte und seit jeher nicht mehr wegzudenkende Instrumente wie Dudelsack, Schalmei, Flöten, Drehleier, Hackbrett, Klangbaum, Trommeln und weitere sind also natürlich nicht verschwunden, sondern werden, ähnlich wie auf dem 2014 erschienenen „Kunstraub“, in manchen Fällen nur anders verlagert eingesetzt. Jener Eindruck entsteht unter anderem auch durch den Fakt, dass der ohnehin schon facettenreiche Klang-Kosmos der sechs Hauptstädter auf „Wolkenschieber“ einmal mehr durch weitere Nuancen wie treibende Electro-Beats, cineastische Orchester-Passagen und verspielte Details experimentell ausgeweitet wurde, was aber mehr eine zusätzliche Bereicherung ist und sich vollkommen im vertretbaren Rahmen bewegt, anstatt die Musik ihrer Identität zu berauben. Diese Entscheidung ist nicht nur der Abwechslung zuträglich, sondern hält den Sound zudem angenehm frisch und modern, wodurch die Spielmänner gekonnt am Puls der Zeit balancieren und sich selbst dabei dennoch ebenso treu bleiben - Sehr schön! Die wohl ungewöhnlichste Quasi-Neuerung sind die zahlreichen Features, von denen es gleich fünf Stück gibt. Die Sache ist die: Die entsprechenden Songs sind alles andere als schlecht, im absoluten Gegenteil, hätten die Beteiligung der Gäste jedoch nicht unbedingt dazu gebraucht, um gut zu sein. Einen wirklichen Mehrwert bieten die Beiträge eher selten, wobei das musikalische Engagement von Oliver Pade bei „Feine Seele“ eine rühmliche Ausnahme darstellt, trägt sein gefühlvolles Spiel der Nyckelharpa doch maßgeblich zur hohen Emotionalität der Ballade bei. Die übrigen Auftritte gestalten sich im direkten Vergleich jedoch eher als nette Beigaben, die entweder thematisch (Björn Both bei „Unser Lied“, Joe und Jimmy Kelly bei „Aus Leben Gemacht“) oder gesanglich (Joachim Witt bei „Des Wahnsinns Fette Beute“) zu den ausgewählten Stücken passen und somit nicht auffallend stören, das ansonsten so stimmige Gesamtbild wohl aber ein wenig zerrissen und überladen anmuten lassen. Klar, viele Features müssen mittlerweile scheinbar sein, doch vielleicht wäre weniger in diesen Fällen mehr gewesen. Echte Ausreißer nach unten gibt es wie üblich praktisch keine, dennoch ist es enorm schade, dass ausgerechnet beim eröffnenden Titeltrack und dem gegen Ende wirklich fantastischen „Katzengold“ aus unerfindlichen Gründen mit den eigentlich vorhandenen und wirklich sehr gelungenen Folk-Melodien zu lange gegeizt wurde, was wie pflichtmäßig übergestülpt wirkt und die Songs leider etwas ihrer Alleinstellungsmerkmale beraubt. Kein Zweifel, so ziemlich alle zwölf Lieder von „Wolkenschieber“ sind von durch und durch hohem Niveau, wenn auch trotz vieler toller Melodien und weitestgehend wirklich gelungener Lyrics die ganz großen Hits und Ohrwürmer heuer ausbleiben, was gefühlt auch daran liegt, dass die jeweiligen Refrains dieses Mal ein Stück hinter ihren Möglichkeiten und dem gewohnten Standard der Vorjahre zurückbleiben… Trotz der genannten Kritikpunkte, die natürlich auch immer irgendwo subjektives Empfinden sind, ist es natürlich absolut keine Überraschung, dass „In Extremo“ auch im neunundzwanzigsten Jahr ihres langen Bestehens um ihre großen Stärken wissen und damit auch ganz genau, wie ein modernes Folk-Rock-Album im Jahr 2024 auszusehen hat: Die Texte bedienen sich oftmals einer sehr schönen Bildsprache und Symbolik, der aktuellen Lage entsprechend fallen diese aber auch durchaus mal sehr direkt und derb aus. Der Sound ist hart, treibend und vorsichtig portioniert innovativ, dennoch so melodisch wie üblich und dabei ziemlich abwechslungsreich. Auch die hochklassige Produktion lässt nichts anbrennen und sorgt für ein glasklares, druckvolles und sattes Klangerlebnis, das sich definitiv hören lassen kann. So klingt der „Wolkenschieber“ wahrscheinlich gerade wegen seines Facettenreichtums etwas weniger rund und homogen als viele der vorherigen Alben und hat definitiv seine Ecken und Kanten - nicht alle davon unbedingt an den richtigen Stellen - aber trotzdem oder gerade deswegen seine volle Berechtigung innerhalb der Diskographie. Somit bleibt selbst nach fast dreißig Jahren des Bestehens spannend, was die musikalische Zukunft der sechs Vagabunden noch so alles bringen wird… „Wer kann mir noch ein Glas besorgen?“.
Informationen: https://www.inextremo.de/ https://www.facebook.com/officialinextremo/
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