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BEITRÄGE:

  • AutorenbildChristoph Lorenz

VNV Nation - „Electric Sun“-Tour - Turbinenhalle, Oberhausen - 31.03.2023


Veranstaltungsort:

Stadt: Oberhausen, Deutschland


Location: Turbinenhalle 1


Kapazität: ca. 3.500


Stehplätze: Ja


Sitzplätze: Nein


Homepage: http://www.turbinenhalle.de


Einleitung: Wir schreiben den letzten Tag des Monats März. Wie doch immer die Zeit verfliegt… Genau genommen ist es Samstag, der 31.03.2023, früher Abend. Wie schon unzählige Wochen zuvor, ist das Wetter ziemlich wankelmütig und obwohl es sich heute bislang doch ganz gut gehalten hat, prasseln jetzt immer mehr kleine Regentropfen auf die Windschutzscheibe, als wir der Stadt Oberhausen über die Autobahn langsam näher kommen. Na toll. Bereits auf der Hinfahrt fragen wir uns, wie voll es heute wohl werden würde, denn noch wurde über die gängigen Kanäle nicht „Low Tickets“ vermeldet. Merkwürdig, denn eigentlich ist das Ruhrgebiet immer eine sichere Bank und sowohl die „Christmas Party“ im Kulttempel als auch just zurückliegende Konzerte in Bochum, dem Zirkus Probst in Gelsenkirchen oder eben der Turbinenhalle waren immer bestens besucht, wenn nicht sogar ausverkauft. Ferner hatte Sänger Ronan Harris während der letzten Songs in Bremen mit starken Stimmproblemen zu kämpfen, die sich daraufhin als hartnäckige Kehlkopfentzündung herausstellten, weswegen die angesetzten Shows in Köln, Berlin, Amsterdam, Sint Niklaas, Warschau und Prag in den Mai verlegt wurden. Vielleicht für den ein oder anderen Fan ja auch ein Grund, stattdessen in den Pott zu reisen, zumal der Kölner Gig unterdessen vom Palladium ins deutlich kleinere E-Werk geschoben wurde? Zu unserer großen Erleichterung können wir noch auf den großen Parkplatz direkt vor dem Gelände fahren und müssen nicht erst eine freie Lücke im weitläufigen Industriegebiet suchen. Diese Erleichterung verpufft jedoch ganz schnell wieder, als wir plötzlich die scheinbar endlos lange Schlange erblicken, die sich vom Haupteingang über eben jenen Parkplatz bis hin zur Turbinenhalle 2 zieht - Wow! Für die Band freut es uns natürlich sehr, wobei die quälende Frage bleibt, ob wir so überhaupt noch einen guten Platz erhaschen können. Dabei sind wir, zumindest für unsere Verhältnisse, heute extra früh losgefahren. So begeben wir uns also ans äußerste Ende der Schlange Wartender und noch immer regnet es. Zum Glück geht die Abfertigung wirklich schnell von statten und so dauert es nicht einmal annähernd so lange wie gedacht, bis wir endlich die schweren Tore passieren. Nachdem ich mich am Gästeliste-Schalter angemeldet und meinen Pass erhalten habe, geht’s direkt weiter zum großen Merchandising-Stand. Auch hier ist selbstverständlich ordentlich was los, da es leider noch immer keine Möglichkeit gibt, die Fanartikel online zu erwerben. Umso schöner, dass das Angebot auf der aktuellen Tournee dermaßen groß ausfällt, sodass bestimmt für jeden Gast etwas Passendes dabei sein dürfte. Highlights sind neben den T-Shirts und Zippern im „Electric Sun“-Design vor allem die neuen Hemden, die Polos mit edlem Logo-Stick und ein kleines Set bestehend aus zwei unterschiedlichen und sehr wertigen Pins. Wie immer kommt man in der Turbinenhalle nicht um das maximal nervtötende Konzept, sich erst an einem gesonderten Stand für einige Wertmarken anstellen zu müssen, bevor damit dann Getränke gekauft werden können. Daher teilen wir uns lieber taktisch auf und siehe da: Wir haben riesiges Glück und bekommen unseren Wunsch-Platz seitlich der vorderen Hälfte tatsächlich noch! Ganz plötzlich tippt mich von hinten jemand an und dann gibt es ein großes „Hallo“, denn zur hellen Freude meiner Begleitung und mir sehen wir heute nach etwas längerer Zeit endlich zwei gute Freunde wieder, die ich beim 2019er Rehearsal von „Rammstein“ in Gelsenkirchen kennenlernen durfte. Ziemlich praktisch, dass sie schon in der Halle waren und wir jetzt das Konzert gemeinsam genießen können, ohne uns in der sich nun beachtlich schnell füllenden Halle suchen zu müssen. Also dann…

Traitrs:


Gegen 20.00 Uhr startet der Support-Act: „Traitrs“. Das vor rund acht Jahren gegründete Duo aus dem kanadischen Toronto hat sich dem Post-Punk und Cold Wave verschrieben. In 2016 erschien ihre Debüt-EP „Rites And Rituals“, das erste Album in voller Länge, „Butcher‘s Coin“, schloss sich dann 2018 an. Der Nachfolger und das gleichsam aktuelle Werk stammt wiederum aus 2021 und nennt sich „Horses In The Abattoir“, welchem wiederum die zweite EP „The Sick, Tired And III“ über das neue Label Freakwave aus Deutschland vorausging. Anscheinend trafen die Zwei mit ihrer Musik einen echten Nerv beim alternativen Publikum, denn viel wohlwollende Aufmerksamkeit war ihnen auch ohne große PR-Aktionen schnell gewiss. So konnte die junge Band ihr Können unter anderem schon mit Gigs auf dem WGT in Leipzig oder der Castle Party in Polen unter Beweis stellen. Wer Ronan Harris nur ein bisschen näher kennt, der weiß, dass seine persönlichen musikalischen Interessen sich seit jeher weit über den Szene-Tellerrand und viele Genres hinaus erstrecken und längst nicht nur im elektronischen Segment verankert sind. Im Gegenteil. Das zeigte zuletzt beispielsweise auch die stilistisch bunt gemischte Auswahl der Gäste für die großen Jubiläumsfeierlichkeiten im Amphitheater Gelsenkirchen: Neben artverwandten Acts wie „Steril“ und „Apoptygma Berzerk“ waren hier nämlich auch die NDH-Rocker von „Heldmaschine“ oder „Wires & Lights“ vertreten, die kurzerhand für die ursprünglich angekündigten „Actors“ einsprangen, die auf recht ähnlichen Pfaden wie eben „Traitrs“ wandeln… Fernab davon, dass der Support ohnehin nie eine leichte Aufgabe ist, sind es natürlich auch keine allzu einfachen Voraussetzungen, sich als noch relativ unbekannte und zudem Genre-fremde Band erstmals einer solch eingeschworenen Fanbase zu präsentieren, wie eine feste Größe à la „VNV Nation“ sie mitbringt. Alles wartet im Regelfall schon sehnsüchtig auf den nahenden Top-Act. Manche Besucher sind noch damit beschäftigt, Merch oder Getränke zu kaufen, unterhalten sich oder sind anderweitig abgelenkt. Heute Abend ist das zum Glück anders, denn mittlerweile ist die erste Turbinenhalle schon mächtig gut gefüllt, sodass das Zweigespann eine gute Basis hat, auf die es nun aufbauen kann. Auch die VNV-Fans zeigen sich ziemlich offen und aufmerksam, als die in schlichtes Schwarz gekleideten Sean-Patrick Nolan und Shawn Tucker in die beiden Kegel der Scheinwerfer treten, um mit „Oh Ballerina“ und „Mouth Poisons“ vom aktuellen Werk loszulegen. Sofort sind die beiden Musiker ganz und gar in ihrem Element und scheinen geradezu in den von ihnen erzeugten Klangwelten zu versinken. Während Nolan hinter seiner hohen Synthesizer-Burg wie besessen an verschiedenen Knöpfen und Reglern dreht, besingt Tucker die Zeilen hörbar leidend und scheinbar introvertiert mit geschlossene Augen, nur um dann wenig später immerzu mit der Gitarre im Anschlag verloren in die Knie zu sinken und schließlich mit Sprung über Bretter zu hechten. Ob das emotionale „Still From Her Sores“ oder „Magdalene“: Das Duo fühlt jede Note, jeden Akkord und jeden einzelnen Ton sichtlich stark in sich und geht mehr und mehr darin auf. Diese sehr präsente Leidenschaft ist es auch, die zunehmend viel Wärme in den sonst eher kühlen Sound und die etwas distanzierte Performance bringt, was jedoch auch der Spielart der Musik generell geschuldet ist. Bis auf einen kurzen Dank nach einigen Liedern gibt es keine zwanghaft aufgesetzte Interaktion mit dem Publikum und doch oder gerade deswegen scheint es beiden Seiten gut zu gefallen. „Traitrs“ sind echt. Die Kombination aus dröhnenden Drumpatterns, schwebenden Gitarren und dem behutsamen, hallende Gesang von Stücken wie „The Lovely Wounded“ und „The Suffering Of Spiders“ spricht in ihrer Authentizität vor allem Oldschool-Fans an, klingt frisch und zugleich nostalgisch, ohne angestaubt oder abgekupfert zu sein. Im gesamten Innenraum und auf dem Balkon herrscht leichte Bewegung, nach jedem Song gibt es Applaus und davon nicht gerade wenig. Dennoch scheint Oberhausen noch nicht ganz aufgetaut und wirkt etwas zurückhaltend. Mit „Thin Flesh“ und „The Way Through A Bird‘s Love“, bei welchem jetzt auch die Band nicht mehr an sich halten kann und gelöst tänzelt, endet der Gig nach knapp vierzig Minuten. „Ihr seid verdammt großartig! Es war ein lange Reise bis hier hin… Wir sehen euch beim nächsten Mal wieder. Cheers!“, lächelt Tucker und schon sind sie wieder verschwunden. Wer eine Ader für melancholische Klänge hegt und sich einmal persönlich von der Band überzeugen will, kann das unter anderem im Mai im nahen Kulttempel tun. Es sei dringend empfohlen!

VNV Nation:


Bereits gegen 20.50 Uhr verdunkelt sich die mittlerweile augenscheinlich bis zum äußersten Rand gefüllte Turbinenhalle ein weiteres Mal und so liegt das Innere alsbald für die nächsten Sekunden in tiefschwarzer Dunkelheit. Hat man sich zuvor vielleicht einmal kurz einen kleinen Moment dazu genommen, sich interessiert umzuschauen, so dürfte die Überraschung nicht schlecht gewesen sein: Während dem Gig von „Traitrs“ und in der kurzen Zeitspanne danach ist es hier nämlich so richtig voll geworden. Die dichte Menschenmasse reicht von der Absperrung gleich vor der Bühne bis ganz nach hinten und auch der darüberliegende Balkon, der den großen Innenraum praktisch rundherum einrahmt, ist auf jeder Seite mit gleich mehreren Reihen hintereinander bemannt. Selbst vor den Theken der zwei Getränkeausschänke und auf den niedrigen Stufenaufgängen zum Foyer ist es rappelvoll. Volles Haus also - Klasse! Freie Ecken gibt es jedenfalls kaum noch und ein Durchkommen ist, wie ich erst kürzlich zwischen Support und Top-Act feststellen musste, nur noch sehr beschwerlich möglich… Kleiner Disclaimer: An nächster Stelle folgt ein kleiner Appell an gegenseitige Rücksichtnahme auf Konzerten post Corona. Wer daran nicht interessiert ist, kann natürlich gerne direkt zum übernächsten Absatz springen - Danke! Vielleicht auch, weil viele Gäste ihren hart erkämpften Platz verteidigen und kein Stückchen mehr davon abrücken… Absolut normal und verständlich, nur wäre es dann schön, anderen Besuchern auf mehrmalige und höfliche Nachfrage hin auch den Durchgang zu gewähren, indem man zumindest ein kleines Stück zur Seite rückt und nicht protestierend mit seinen Ellenbogen um sich stößt, was im schlimmsten Fall wortwörtlich ins Auge gehen kann. Das betrifft an diesem Abend mit knapp zwei Metern Körpergröße weniger mich selbst, als deutlich kleinere Konzertgäste, Fans mit körperlichen Einschränkungen oder auch jüngere Besucher. Denn prinzipiell ist es doch sehr schön, die Shows endlich wieder live, gemeinsam und vor allem ohne Distanz erleben zu können, nur scheint die zwischenliegende Zeit leider zu mangelhafter Umsicht einiger Weniger geführt zu haben. Wir sind immerhin weder auf einem Ego-Trip, noch auf einem Privatkonzert und auch nicht mehr in unserem „eigenen“ Strandkorb, sondern alle hier, weil wir die Musik unserer Lieblingskünstler genießen möchten. Zusammen. Und das geht eben nur mit Rücksichtnahme und gegenseitigem Respekt, wie auch Ronan Harris später noch äußern wird. An dieser Stelle nochmals ein herzliches Dankeschön an die sehr umsichtige und hilfsbereite junge Frau aus der Technik-Crew, welche die Situation beobachtet und jemandem aus unserer Gruppe ganz lieb dazu verholfen hat, doch nochmal durch die Menge zurück zum alten Platz zu kommen! Weiter geht’s.

Plötzlich ertönt laut pochender Bass. Sehr präsent, doch erst nur ganz kurz. Ein einziges Mal. Doch dann schon wieder. Und wieder. Während sich jetzt allmählich mystisch flackernde Synthesizer-Spuren in das voluminöse, dichte Sound-Bild mischen, pumpt es extrem druckvoll und immer schneller aus den Boxen. Eine unweigerlich treibende Rhythmik, die sofort zum Klatschen animiert. Nein, geradezu dazu auffordert. Die gesamte Szenerie wird hauptsächlich von vier hohen Videowänden bestimmt, dazwischen ragen drei hohe LED-Säulen empor. Eine direkt im Zentrum und wiederum jeweils eine zu den äußersten Seiten. „VNV Nation Electric Sun Tour 2023“ ist in übergroßen Lettern auf den grell aufblitzenden Screens zu lesen. Unter laut aufbrandenden Jubelstürmen betreten nun Schlagzeuger Jan Hendrik Schnoor sowie die beiden Keyboarder David Gerlach und André Winter schnellen Schrittes die Bretter im schummrigen Halbdunkel und begeben sich hinter ihre Instrumente auf den erhöhten Podesten, die allesamt von zahlreichen Scheinwerfern eingerahmt werden. Dazwischen und auch am vorderen Rand der Bühne wurde mit länglichen LED-Bars weitere Beleuchtung verbaut, die schon bald ihre ganze Pracht entfalten soll. Nur einen Sekundenbruchteil später folgt dem Trio auch Sänger Ronan Harris, ehe die Eröffnung mit der aktuellen Single vom kommenden Studioalbum erfolgt: Zu „Before The Rain“ gehen alle Lichter an und tauchen die Bühne in warme Farbtöne aus Gelb und Orange ein. „Einen schönen guten Abend, Oberhausen. Meine Fresse…“, begrüßt er die Ruhrgebietsmetropole fröhlich strahlend und zugleich ein wenig ungläubig, ob des beeindruckenden Anblicks eines randvollen Hauses. „Was ist los? Ihr seid so ruhig!“, lacht er und ermutigt die Fans gewohnt fröhlich zum Mitmachen. Mit vollem Erfolg, sodass er angesichts des tosenden Beifalls erstmal spaßend und wild gestikulierend zurückweicht. „Ich habe so gute Laune, mein Gott! Wir haben heute ein volles Programm für euch… Neues. Altes. Alles. Heute geht’s nur um Party, Tanzen und Singen. Seid ihr dabei?“, fragt er sichtlich voller Vorfreude und findet anschließend auch ein paar ernste Worte, um den Rahmen für den weiteren Verlauf des Abends zu definieren. „So, jetzt kommt wieder meine nervige Ansprache!“, lacht er kopfschüttelnd. „Es ist mir egal, ob ihr sie mögt oder nicht. Die Leute hinter dir haben keine Karten gekauft, um in deinen scheiß Bildschirm zu schauen. Ehrlich, ich meine das wirklich nicht böse!“, beteuert Harris beschwichtigend und bezieht sich damit auf die ein oder andere aktuelle Diskussion in den sozialen Medien. „Bitte zeigt ein bisschen Respekt voreinander und haltet euer iPhone oder Samsung vor das eigene Gesicht. Respekt hat jeder von uns verdient. Wir passen aufeinander auf, okay?“, lächelt er zuversichtlich. „Zweitens: Einige von uns haben Kontaktlinsen. Schaltet bitte den Blitz aus. Das blendet vielleicht, das kannst du echt nicht glauben! Wir schauen hier in die Dunkelheit und sehen dann nur so einen grellen Blitz… Also bitte ausschalten, umso besser werden die Fotos am Ende sein. Es ist nur eine Bitte, ich meinte das niemals böse!“. Viel sympathischer kann man eine solche Bitte vermutlich gar nicht vortragen und so zeigen sich alle Besucher mit den Vorgaben schnell und wohlwollend einverstanden.

„Seid ihr gut drauf? Dann soll es weitergehen!“, wechselt der Sänger das Thema und leitet so zu „Sentinel“ vom 2009 erschienenen Album „Of Faith, Power And Glory“ über. Sofort ist alles wie immer und rundherum wird freudestrahlend gesungen und getanzt. Die gute Laune von der Bühne aus ist sichtlich ansteckend und verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Da bekommen auch zwei Crew-Mitglieder, die an einem Pult am Rand stehen, kurzerhand eine kollegiale Fistbump von Harris, der bereits jetzt voll und ganz in seinem Element ist und bekannten Gesichtern in den ersten Reihen zuwinkt. Die Stimmung ist sichtlich freundschaftlich und familiär. Erst folgen das positiv aufgeladene „Primary“ und die verträumte Future-Pop-Ballade „The Farthest Star“, bevor es mit „When Is The Future?“ zum (noch) aktuellen „Noire“ zurückgeht. Der Song vereint in seiner Icebreaker-Funktion sichtlich alte und neue Fans, die nun auch etwas aktiver werden und Spaß haben. Frisch aufgetaut kann so die große Party-Runde mit einer Handvoll schnelleren Stücken aus dem reichhaltigen Repertoire der über dreißigjährigen Schaffensphase losgehen: Das wütende „Retaliate“ von „Transnational“ aus 2013 gibt die klare Marschrichtung vor, dann schiebt das unverzichtbare „Chrome“ weiter an. Der Großteil der Fans ist gewohnt textsicher und weiß um seine Einsätze in den Songs. Wie könnte es bitte auch anders sein? Ohne gesonderte Ankündigung dringen unvermittelt neue Klänge zu Ohren: Ein minimalistisch treibender Beat, der insbesondere die EBM-Fraktion im Publikum sehr erfreuen dürfte, und der eingängige, ziemlich tanzbare Rhythmus zeichnen „Artifice“ schon innerhalb der ersten Sekunden aus. Im Refrain kommen noch typische Future-Pop-Synthies hinzu. Dazu lässt die Lichtanlage ihre Muskeln spielen und zeigt, was sie alles kann, wenn die rotierenden LEDs der Säulen nun wie ein bläulich aufblitzendes Radar wirken und allerhand gebündelte Kegel wild durch die Turbinenhalle fahren. Es ist vermutlich eine der besten und ausgeklügeltsten Lighshows, die man in der Szene die letzten Jahre über so bewundern konnte und zudem fraglos eine der stärksten von „VNV Nation“ bisher! Auch wenn der anschließende Applaus eine ganz klare Sprache spricht, ist insbesondere während der neuen Stücke eine gewisse Zurückhaltung zu vernehmen. Verständlich, immerhin möchten die Fans das neue Material voller Interesse aufsaugen und sind in diesen Momenten eher aufmerksam als ausgelassen. „Na, gefällt‘s? Wir haben noch viel mehr, liebe Leute. Keine Sorge!“, erkundigt sich Ronan Harris. Ungewöhnlich früh im Set platziert ist auf der aktuellen Tour der Mega-Hit „Control“, der sonst eher kurz vor dem Zugabenteil zu finden war und jetzt nochmal so richtig anheizt. Alles ringsum tanzt zum peitschenden Beat des energiegeladenen Up-Tempos im zuckenden Stroboskoplicht und grölt den kernigen Chorus wie einen kollektiven Schlachtruf aus vollen Kehlen mit. Die charmanten Projektionen im Stil eines nostalgischen Arcade-Games bleiben dieses Mal allerdings aus, dafür flackern abstrakte Formen über die hohen Monitore. Generell ist aber zu sagen, dass neben der eleganten Komposition aus Licht und Schatten auch die diesmalig ausgewählten Videos mit ihren kräftigen Farben, Kontrasten und Grafiken wieder äußerst passend, geschmackvoll und ästhetisch daherkommen, ohne vom eigentlichen Geschehen auf der Bühne abzulenken - Top!

Das zeigt sich auch beim nachfolgenden Lied, welches nach all der schweißtreibenden Eskalation wieder einen dringend nötigen Ruhepol setzt: „Further“ von der „Burning Empires“-EP aus dem Jahr 2000 ist eine wunderbar aufrichtige Ballade, die mit ihren eindringlichen Klängen sofort ganz tief ins Herz trifft. Erstmals an diesem Abend ist Ronan Harris nicht in ständiger Bewegung, sondern steht ganz still hinter seinem Mikrofonstativ, ist mit geschlossenen Augen ganz und gar versunken in Text und Musik. Gemächlich ziehen nebelartige Schlieren und quadratische Fragmente über die Leinwände, die Bühne wird in dunkles Blau eingetaucht. Im fragilen Refrain kommt der goldgelbe Schimmer der Scheinwerfer dann besonders gut zur Geltung. „Uh, dramatische Pause… Spannung.“, schmunzelt der Sänger anschließend während des pulsierenden Synthie-Loops des nächsten Songs. Viele Fans haben diesen natürlich gleich vom ersten Ton an erkannt: Es handelt sich um das Intro zum schwelgerischen „Homeward“, welches die ruhige Gangart beibehält. Nur wenig später darf beim poppigen „God Of All“ aber schon wieder getanzt werden. „Fuck, ich liebe diesen Song!“, freut sich Harris quirlig und animiert die Fans. Mit „Invictus“ gibt es nun den dritten Neuzugang zum Probehören, der auch visuell mit einer wunderbar stimmungsvoll inszenierten Dramaturgie aufwartet: Von Anfang an pulsieren die drei hohen LED-Säulen hier pointiert im Takt und wirken in ihrem warmen Schein wie rettende Leuchtfeuer in der Nacht. Mit dem baldigen Einsatz der Drums werden auch die vier Screens auf die Sekunde genau wieder einbezogen. Ein wirklich tolles Bild! Der Song selbst ist als erlesener Future Pop im Mid-Tempo nach bewährter VNV-Art zu bezeichnen, der rein musikalisch auch sehr gut auf die „Futureperfect“ gepasst hätte. Den ruhigen Strophen wohnt durch den tiefen Basslauf ein dezent dunkler Kern inne, der mit dem gewohnt warmen Gesang jedoch einen zugleich hoffnungsvollen Anstrich erhält, bis schließlich der sehr melancholische Refrain voller Weltenschmerz, in dem nun auch die Synthesizer wieder sehr viel präsenter werden, dem Ganzen die hochgradig emotionale Krone aufsetzt - Wow! „Mein Gott, diese Reaktion hätte ich jetzt nicht erwartet!“, zeigt sich der sympathische Sänger ob des tosenden Jubels fast schon ungläubig und ehrlich dankbar. Ein dumpf dröhnender Bass schält sich aus dem Hintergrund heraus und kündigt so „Immersed“ an, welches das Publikum jetzt ganz schnell aus der seligen Stimmung reißt und sofort auf ein Schlachtfeld aus EBM-Rhythmik und aggressiven Beats katapultiert. Traditionell wird der Part nach dem Refrain wieder in verschiedene Runden eingeteilt, in denen das Klatschen quasi strikt untersagt ist und Harris die Menge stattdessen dazu auffordert, sich die Seele aus dem Leib zu tanzen. „Liebe Leute, macht mal bitte eine große Tanzfläche, ja? Nehmt die Hände runter… Ihr habt jetzt etwas zu tun!“, heißt es da nur. Wer kann sich da schon widersetzen!? Im Refrain des beschwingt gelösten „Resolution“ dürfen natürlich wieder eifrig die Arme hin- und hergeschwenkt werden, sodass sich die Turbinenhalle schon bald in ein großes, wogendes Meer verwandelt.

Die positive Message und erbauende Energie, für die „VNV Nation“ wie wohl kaum eine andere Band des Genres stehen, verfehlen ihre Wirkung nicht und springen schnell auf alle Anwesenden über, die damit bereit für den letzten Vorgeschmack auf „Electric Sun“ sind: „Prophet“. Schon die ersten Takte überzeugen und lösen lauten Jubel aus. „Seid ihr bereit? Ist das Einhorn auch bereit?“, fragt Harris lachend zwei Gäste im Publikum, die eines der seit dem Amphi Festival obligatorisch gewordenen Kuscheltiere mitgebracht haben und jetzt in die Höhe halten. Der Up-Tempo besticht sofort durch seinen treibenden Beat mit vehementer Future-Pop-Schlagseite, die sich hier durchgehend präsent zeigt und eine ausgewogene Balance zwischen einer etwas fordernderen Gangart, viel Eingängigkeit und hoher Melodiösität herstellt, die sich ganz besonders im instrumentalen Zwischenspiel und dem tollen Mitsing-Chorus bemerkbar macht. Schon jetzt völlig zurecht ein absoluter Favorit unter den begeisterten Fans! Damit beenden „VNV Nation“ den Hauptteil ihres Sets und verabschieden sich nach knapp achtzig Minuten erstmals von der Bühne. Natürlich soll es das noch lange nicht gewesen sein und so dauert es auch nur wenige Minuten, bis Ronan Harris vorerst allein zum freudig applaudierenden Publikum zurückkehrt. Doch noch stehen die Zeichen nicht auf Party, denn der Sänger hat vorerst noch ein sehr wichtiges Anliegen auf dem Herzen, welches er nun mit den aufmerksamen Fans teilen möchte. „Ich habe das auf dieser Tour zwar schon oft auf Englisch gesagt und muss es einfach wieder sagen…“, beginnt er mit ernster Miene. „Damals mit Fünfzehn habe ich mich ausgeschlossen und allein gefühlt, aber ich habe irgendwann Frieden mit mir selbst geschlossen. Dieses Gefühl hat absolut nichts damit zutun, der alternativen Szene anzugehören, sondern eben damit, Fünfzehn, Sechszehn oder Siebzehn zu sein! Die Sache ist die: Als ich damals diesen Song geschrieben habe, hätte ich niemals erwartet, anschließend so viele Nachrichten von jungen Menschen zu bekommen, die große Angst davor hatten, mit jemandem darüber zu sprechen, dass sie sich umbringen wollen… Wir haben sehr viel darüber geredet und irgendwie haben sie dann einen Weg für sich da raus gefunden, um weiter zu leben. Wir alle waren schon einmal an so einem Punkt. Wir alle kennen diese dunklen Gedanken und alles, was ich damit sagen will, ist, dass es mir scheißegal ist, was ihr von jeder dieser Generationen denkt! Diese ganze Generationssache ist nur eine mediale Erfindung, die Menschen bricht und einen Keil zwischen sie treibt. Sie sind eine reine Illusion! Ich will, dass ihr versteht, dass jeder Teenager dort draußen durch den selben Scheiß muss, wie ihr es auch einmal musstet. Also bitte, reiche ihnen deine Hand und zeige ihnen, dass du sie verstehst, weil jeder Einzelne das Recht dazu hat, durch diese Jahre hindurch zu kommen, den Rest seines Lebens zu sehen und diese beschissene Welt zu einem besseren Ort zu machen! Das ist alles, was ich möchte. Jeder hier in diesem Raum versteht, wovon das nächste Stück handelt. Lasst es uns gemeinsam singen…“, bittet er zum schon lange unverzichtbar gewordenen „Illusion“, dessen finalen Refrain das Publikum traditionell ganz allein singt. Wie immer ein hochemotionaler Höhepunkt, den man einfach immer wieder genießen möchte!

Der extrem hohe Grad an großen Emotionen soll danach zwar weiter gehalten werden, fällt jetzt aber wieder sehr viel tanzbarer aus: „Solitary“ von „Praise The Fallen“ aus dem Jahr 1998 und „Darkangel“ vom Nachfolger „Empires“ bilden zusammen ein echtes Power-Doppel und nehmen die Fans auf eine kleine Reise zu den VNV-Ursprüngen mit. „Das ist für die alten Fans! Ich singe diesen Song jetzt seit fünfundzwanzig Jahren… Es ist mir völlig egal, ob ihr ihn kennt oder nicht. Aber: Bewegt euch!“, ruft Harris sichtlich vom Adrenalin getrieben. Die Menge folgt seinen Worten ohne Zögern und reaktiviert nochmals alle Reserven, bis dann auch der erste Zugaben-Block endet. Wieder verlässt der Vierer die Bretter und wieder wird er von den rund dreitausend Fans lautstark zurück auf eben diese gefordert. „Seid ihr etwa noch immer nicht zufrieden!? Mensch, Mensch… Wir wollen doch Feierabend haben!“, lacht Harris spaßend. „Habt ihr denn überhaupt noch Lust und Kraft? Okay aber nur, weil ihr das wollt!“, scherzt er herzlich und wendet sich dann seinen Mitmusikern zu. „Lasst mich euch die Band vorstellen: Seit September 2004 arbeite ich bei jeder Produktion mit André Winter hier zusammen… Geiler Typ!“, stellt er den Keyboarder auf der linken Außenseite vor. „Wenn du Musiker bist, guck‘ dir diesen Typen an. Das ist einer der besten Drummer… Jan Hendrik Schnoor, wirklich wie ein Metronom!“, lobt Harris den neuen Mann hinter dem Schlagzeug in der Mitte, der damit Sebastian Rupio ablöst. „Das ist David Gerlach, wir arbeiten ganz oft zusammen. Warum?“, deutet er auf den zweiten Keyboarder zu seiner Rechten, woraufhin dieser einer wunderbar elegante Salon-Version von „Illusion“ zum Besten gibt. „So, jetzt nochmal rückwärts!“, lacht der Sänger amüsiert und sichtlich beeindruckt zugleich. Mit dem kleinen Ritual, „ein großes Lichtermeer“ zu bauen, dürfen zur herzerwärmenden Über-Ballade „Nova“ nun alle Handytaschenlampen mit dem Einsatz des Refrains aktiviert und sich bei „Beloved“ in die Jugend zurückversetzt werden. „Stellt euch vor, es ist 2002, wenn ihr alt genug seid. Ihr seid in eurem Lieblingsclub und lasst einfach alle Gefühle raus. Singt mit mir!“, ermuntert Harris die Fans und alle folgen ihm. „Ich finde einfach keine Worte dafür und bin so unfassbar dankbar… Das meine ich ganz ehrlich. Danke für alles, was ihr uns gebt!“, zeigt sich der Frontmann sprachlos und weist anschließend noch darauf hin, doch bitte auch immer die Support-Bands zu unterstützten und ihr Merch zu kaufen, um die Zukunft zu sichern. Wie schon zuletzt beschließt das epochale „All Our Sins“ mit Schnoor an der apokalyptisch donnernden Trommel und einer abermals fantastischen Ausleuchtung das ausgiebige Set, bevor sich „VNV Nation“ nach über zwei Stunden purem Live-Genuss vom Oberhausener Publikum verabschieden und rundum glücklich strahlende Gesichter zurücklassen… „Electric Sun“ kann endlich kommen!

Setlist:


01. Intro

02. Before The Rain

03. Sentinel

04. Primary

05. Farthest Star

06. When Is The Future?

07. Retaliate

08. Chrome

09. Artifice

10. Control

11. Further

12. Homeward

13. God Of All

14. Invictus

15. Immersed

16. Resolution

17. Prophet

18. Illusion

19. Solitary

20. Darkangel

21. Nova

22. Beloved

23. All Our Sins Impressionen:


Carsten Zerbe - Pixel.Ruhr / Schwarzpixel


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